Sandy hatte es ganz eindeutig nicht so eilig wie sie. „Das New Hope-Zentrum ist eine tolle Einrichtung“, schwärmte sie. „Ich habe schon an vielen Seminaren teilgenommen, die dort angeboten werden, und das hier ist wirklich hervorragend.“
Meg strich sich die aschblonden Locken aus den Augen und heuchelte Interesse, als Sandy ihr den Flyer zeigte, der zu einer „geistlichen Reise“ einlud.
„Dieser Kurs hat zum Ziel, dass man geistliche Disziplinen kennenlernt, mit deren Hilfe man die Beziehung zu Gott vertiefen kann“, erklärte Sandy. „Du hattest in den vergangenen Monaten so viele Veränderungen zu verkraften. Da dachte ich, dass dieser Kurs vielleicht etwas Gutes für dich wäre.“
Meg biss sich auf die Lippe. Offensichtlich hatten der Pastor und seine Frau erkannt, wie schwer der Trauerprozess an ihr nagte.
Sandy sprach mit sanfter Stimme weiter. „Ich erinnere mich noch, wie es mir nach dem Tod meiner Mutter ging. Und ich weiß doch, wie nahe ihr euch gestanden habt.“
Nahe?
Meg spürte, wie die Hitze über den Hals in ihre Wangen hochstieg. Die roten Flecken waren auf ihrer hellen Haut deutlich zu erkennen. Verräter. Sie hasste diese Flecken.
„Vielen Dank, dass du an mich gedacht hast, Sandy“, sagte sie und legte ihre eiskalte Hand an ihren Hals, um ihn zu kühlen. „Bitte richte Dave aus, dass er heute eine sehr gute Predigt gehalten hat.“
Und dann schlüpfte sie schnell durch die Glastüren, bevor jemand sie ansprechen konnte.
Hannah, 1976
Die siebenjährige Hannah Shepley liebte Braunbär, den treuen Verwalter ihrer Geheimnisse und Sorgen, heiß und innig. Als eines der sanften braunen Augen des Teddys ausfiel und nicht mehr zu finden war, brach es ihr das Herz. Miss Betty, die alte Nachbarin, tätschelte mit ihrer arthritischen Hand Hannahs Kopf und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen; sie könne Braunbärs Augen wieder in Ordnung bringen. Mit Tränen in den Augen vertraute Hannah ihren Freund Miss Betty an, die versprach, ihn ihr bald zurückzubringen.
Als Braunbär zwei Tage später nach Hause kam, strahlte Miss Betty und sagte: „Hier, Hannah. Siehst du? So gut wie neu!“
Doch als Hannah in Braunbärs Augen blickte, erkannte sie ihn nicht. Und sie wusste, dass auch er sie nicht erkannte. Der allwissende, liebevolle Ausdruck war fort, ersetzt durch den ausdruckslosen, starren Blick von Plastikknöpfen, die keine Erinnerungen hatten. Hannah hatte ihren besten Freund und Vertrauten verloren.
Ihrer Mutter war ihr Schweigen peinlich. „Was sagt man, Hannah? Miss Betty hat sich große Mühe gegeben, deinen Teddy für dich zu reparieren.“
„Vielen Dank, Miss Betty“, flüsterte Hannah. Doch als sie allein in ihrem Zimmer war, brach sie in Tränen aus.
„Wenn ich mit Ihnen gesprochen habe, geht es mir gleich viel besser“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung tief bewegt.
Die 39-jährige Hannah Shepley lächelte in sich hinein. 15 Jahre lang war sie nun schon zweite Pastorin in der Westminster Church in Chicago, und sie liebte ihre Arbeit noch immer.
„Wir sollten uns treffen, um miteinander zu beten“, bot Hannah an, nahm sich ihren Terminkalender vor und überflog die Termine für diesen Tag: Dienstag, der 5. August. Der Tag war vollständig verplant bis hin zu einer Verabredung zum Abendessen. „Ist zwanzig Uhr heute Abend zu spät für Sie?“, fragte Hannah. „Ich besuche Sie gern zu Hause. Aber natürlich können Sie auch in mein Büro kommen. Wie es Ihnen besser passt.“ Sie verabredeten sich in Hannahs Büro.
Hannah hatte große Sorgfalt darauf verwandt, durch die Ausstattung des Büros eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. Eigentlich war es jetzt sogar viel gemütlicher als in ihrer Wohnung, und das war gut so. Menschen, die in einer Krise steckten, sollten ihr Büro als einen Zufluchtsort empfinden, und tatsächlich war es so, dass sie selbst ohnehin viel mehr Zeit hier verbrachte als zu Hause. Einmal hatte sie nachgerechnet, wie viele Stunden sie sich in ihrer Wohnung aufhielt, und sie hatte festgestellt, dass es nicht mal ein Drittel des Tages war.
Selbst die Krankenhäuser lagen weiter vorn.
Hannah warf einen Blick auf die Uhr und schnappte sich ihre Schlüssel. Sie sollte um 10:00 Uhr im Krankenhaus sein, um Ken Walsh zu besuchen, der am offenen Herzen operiert werden sollte. Und wenn sie schon mal da war, konnte sie auch gleich nach Mabel Copeland sehen, die sich von einer Hüftoperation erholte. Wenn sie sich beeilte, bliebe noch genug Zeit, um unterwegs ein paar Blumen zu besorgen.
Im Flur stieß sie beinahe mit Steve Hernandez zusammen, dem Hauptpastor ihrer Gemeinde. „Na, hast du es schon wieder eilig?“, fragte Steve.
Hannah strich sich ihre kinnlangen, braunen Haare hinter die Ohren. „Das ist wieder mal einer von diesen Tagen, an denen ich an drei Orten gleichzeitig sein müsste. Du weißt ja, wie das ist.“
„Kann ich dir heute irgendetwas abnehmen?“, fragte Steve.
Diese Frage stellte Steve immer, und Hannah verneinte sie jedes Mal. Sie hatte alles im Griff. Trotzdem war sie dankbar, dass er fragte. Viele Pastoren nahmen ihre zweiten Pastoren als selbstverständlich hin. Aber Steve nicht. Er behielt den geistlichen Zustand seiner Mitarbeiter im Blick, und sie liebten ihn dafür.
„Achte darauf, dass du dir heute auch mal Zeit zum Verschnaufen nimmst, Hannah.“
Sie lachte. „Der Termin zum Durchatmen ist am Donnerstag in einer Woche.“
Am folgenden Morgen klopfte Steve um kurz vor 8:00 Uhr an ihre geöffnete Bürotür. „Schon wieder so früh bei der Arbeit?“, fragte er mit einem Blick auf seine Uhr.
Hannah blickte von ihren Unterlagen hoch und unterdrückte ein Gähnen. „Ich war schon früh im Krankenhaus, um mit Ted und seiner Familie noch vor seiner Operation heute Morgen zu beten. Eigentlich wollte ich gleich dortbleiben und mit den Angehörigen zusammen warten, aber ich habe um neun eine Besprechung. Ich fahre später noch mal hin, um mich zu erkundigen, wie die Operation gelaufen ist.“ Sie deutete auf ihre braune Couch. „Komm doch rein, Steve. Setz dich.“
Er schob ein Kissen und eine Decke zur Seite. „Hast du etwa hier übernachtet?“
„Ich schlafe nachher noch eine Runde.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. „Was gibt’s?“
Steve atmete tief durch. „Hannah, die Ältesten und ich sind zu einer Entscheidung gekommen, die dir sicher nicht gefallen wird. Aber ich hoffe, du kannst sie als Geschenk annehmen.“
Hannah biss die Zähne zusammen und überlegte sofort, was das sein könnte. Erstaunlich, wie viele unterschiedliche Gedanken einem innerhalb von fünf Sekunden durch den Sinn schießen konnten. Sie war aufgeschreckt. Sollte der Mitarbeiterstab neu organisiert werden? Wurde ein Dienstzweig gekürzt? Wollte man ihr ein anderes Team anvertrauen?
„Wir schicken dich in eine neunmonatige Sabbatzeit“, erklärte er. „Ab September.“
Ihre wirbelnden Gedanken kamen abrupt zum Stillstand. „Das … das verstehe ich nicht“, stammelte sie und suchte in seinem Gesicht nach nonverbalen Hinweisen.
„Ich weiß. Aber wir beobachten dich nun schon seit einer Weile, und es wird höchste Zeit. Du arbeitest jetzt seit fast fünfzehn Jahren hier, ohne Pause. Es ist längst überfällig.“
„Aber viele Pastoren arbeiten viel länger und haben nie frei“, hielt sie dagegen. „Außerdem habe ich im vergangenen Jahr sechs Wochen Pause eingelegt!“
Steve lachte. „Um dich von einer größeren Operation zu erholen! Und wenn ich mich recht entsinne, hast du von zu Hause aus weitergearbeitet.“
Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Ich brauche keine Sabbatzeit. Ich liebe meine Arbeit, und es geht mir gut.“
„Dieses Mal gibt es kein Herausreden, Hannah. Die Entscheidung ist gefallen. Und weil so viele Leute in der Gemeinde dich sehr schätzen und lieben – und damit du dich wirklich entspannen kannst –, haben wir Geldspenden bekommen, die deine Auszeit auch finanziell absichern.“
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