»Die Ehefrau als Täterin können wir wohl ausschließen«, ließ er die Begegnung mit Silvia Koch Revue passieren und klappte die Speisekarte zu. Mit der Bestellung wollten sie bis zum Eintreffen der Kollegen warten. Vorausgesetzt, das dauerte nicht mehr allzu lange.
»Das denke ich auch«, schloss sich Grünbrecht seiner Meinung an. »Trotzdem sollten wir nachher noch einmal zu ihr fahren und mit ihr reden. Vielleicht hat sie ja einen Verdacht, wer ihrem Mann das angetan haben könnte, und vor allem warum.«
»Das machen wir«, brummte Stern und rieb sich die Hände. In dem Gasthaus duftete es verführerisch, und Sterns Verlangen, seinen Hunger zu stillen, wuchs von Sekunde zu Sekunde weiter an. »Wo bleiben bloß Mirscher und Kolanski? Ich verhungere …«
Im selben Augenblick schwang die Tür der Gaststube auf und die Kollegen traten ein.
Stern war erleichtert. »Wenn man vom Teufel spricht.«
Grünbrecht lächelte den Eintretenden entgegen. Ein angedeuteter Kuss flog durch die Luft, was Stern einen Seufzer entriss. Mirscher setzte sich neben seine Verlobte, Kolanski nahm neben dem Chefinspektor Platz. Der bestellte nun endlich seinen geliebten Schweinsbraten, Grünbrecht wie üblich einen Salat und Mirscher ein Kotelett nach Mühlviertler Art mit Speck und Champignons. Kolanski begnügte sich mit einer Suppe und begründete seine Zurückhaltung mit dem durch den Mordfall einhergehenden Zeitmangel, genügend Sport treiben zu können, weshalb er bei gleichbleibendem Verzehr von Speisen an Gewicht zulegen würde. Das wolle er auf gar keinen Fall. Stern, dem Kolanskis Sportleidenschaft schon immer schleierhaft gewesen war, ließ sich den Appetit deswegen nicht verderben und orderte noch einen Semmelknödel extra zu seinem Schweinsbraten.
»Was habt ihr über das Opfer herausgefunden?«, begann er mit der Besprechung des Falls.
»Oliver Koch war so etwas wie eine jüngere Ausgabe von Donald Trump. Jähzornig, hat jeden Furz getwittert. Unberechenbar soll er gewesen sein und frauenverachtend«, kam Kolanski ebenfalls gleich zur Sache.
»Muss man heutzutage so sein, um gewählt zu werden?«, stieß Grünbrecht verächtlich aus.
»Er hat gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in dem ehemaligen Gasthaus Maria Bründl gewettert, das zuvor leer gestanden hat. Das hat ihm nicht nur Freunde beschert, haben mir die St. Oswalder erzählt. Der Großteil der Bevölkerung steht der Aufnahme von Flüchtlingen nämlich positiv gegenüber«, redete Mirscher weiter.
Schon wieder dieses Maria Bründl, dachte Stern, und seine Gedanken schweiften kurz zu seinem Selbstversuch mit dem radonhaltigen, angebliche Heilkräfte besitzenden Wasser ab. Er schaute aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Haus, an dem ein Reklameschild befestigt war, um zu testen, ob seine Sehkraft sich inzwischen verbessert hatte. Als er keine Veränderung bemerkte, versuchte er erneut, den Text auf der Speisekarte zu entziffern, was ihm jedoch ebenso schwerfiel. Also hatte sich weder an seiner Kurzsichtigkeit noch an seiner Altersweitsichtigkeit etwas geändert.
»Bei einem Teil der Österreicher hätte ihm das große Sympathie eingebracht«, spuckte Grünbrecht angewidert aus. Es war ihr anzusehen, was sie davon hielt. »Ich verstehe nicht, was in unserem Land los ist. Uns geht’s doch gut, so gut wie schon lange nicht mehr. Wir haben ein funktionierendes Sozialsystem, sodass kaum jemand unter den Rost fällt, und dennoch verlangen viele Österreicher nach dem rechten Lager, einem ›starken Mann‹.«
»Eine seltsame Entwicklung, wie auch die Art des Todes von unserem Opfer seltsam ist«, lenkte Stern das Gespräch wieder auf ihren Fall.
»Ertrunken auf einem Grab«, brachte Kolanski es auf den Punkt.
»Das steht noch nicht fest«, warf Stern ein.
»Aber wie die Dinge liegen, ist es wahrscheinlich.«
Dem wusste Stern nichts entgegenzusetzen. Dennoch würde erst Webers Obduktion der Leiche Gewissheit bringen.
»Der Fundort ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der Tatort«, sagte Mirscher. »Wir wissen noch immer nicht, wo das Opfer getötet wurde.«
Die Unterhaltung verstummte, weil das Essen serviert wurde. Ein saftiger Schweinsbraten samt drei Semmelknödel wanderte vor Stern auf den Tisch, und ihm lief der Speichel im Mund zusammen. Dass diese Mahlzeit die letzte für lange Zeit sein würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht.
Nach dem Essen fuhren Stern und Grünbrecht erneut zu Silvia Koch in der Hoffnung, dass die Wirkung des Beruhigungsmittels inzwischen eingesetzt hatte und sie ihr ein paar Fragen stellen konnten. Als die Kriminalbeamten im Haus der Kochs eintrafen, lag die Witwe auf der Couch im Wohnzimmer, mit einer Decke bis zu den Schultern eingehüllt, und starrte vor sich hin. Stern war nicht sicher, ob sie ihre Anwesenheit überhaupt registrierte.
»Frau Koch?«, fragte er und berührte sie sanft am Arm.
Die Angesprochene hob den Kopf und blickte ihn mit geröteten Augen an.
»Ich bin Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir waren vorhin schon mal da, erinnern Sie sich?«
Die Frau nickte und schlug die Decke zur Seite.
»Können Sie uns ein paar Fragen beantworten?«
Silvia Koch versuchte, sich langsam aufzusetzen. Es war ihr anzumerken, dass sie unter dem Einfluss eines Beruhigungsmittels stand. Stern war unschlüssig, ob er ihr helfen sollte, da schob Grünbrecht ihre Hand in den Rücken der Witwe, um sie bei ihren Bemühungen, in die Senkrechte zu kommen, zu unterstützen. Die Decke legte Grünbrecht ihr anschließend auf die Beine.
»Wollen S’ einen Kaffee hab’n?«, fragte die Schwester der Frau, die ihnen zuvor die Tür geöffnet hatte und jetzt mit dem Kind auf dem Arm die Szene beobachtete. Auch ihr war die Last anzusehen, der Kummer, der diese Familie erschütterte. Stern lehnte dankend ab. Er fand es nicht angebracht, sich von diesen Menschen bedienen zu lassen, wo sie doch den Tod eines geliebten Menschen zu beklagen hatten.
»Was wollen S’ denn wissen?«, fragte Silvia Koch mit dünner Stimme. Gleichzeitig zog sie die Decke bis zu den Schultern hoch, als fröstelte sie. Ein Zeichen dafür, dass sie unter Schock stand, denn in dem Wohnzimmer war es angenehm warm temperiert.
Stern nahm einen Stuhl, stellte ihn vor das Sofa und setzte sich darauf. »Frau Koch, haben Sie eine Ahnung, wer Ihrem Mann das angetan hat?«, begann er mit der Befragung.
»Wie … wie ist er denn …?« Silvia Koch sah die Kriminalbeamten unsicher an. Wahrscheinlich hatte sie Angst, die genaue Todesursache zu erfahren, die Umstände zur Kenntnis nehmen zu müssen, wie es passiert war, und vor allem warum es geschehen war. Sie würde sich dann mit Dingen auseinandersetzen müssen, die sie vielleicht gar nicht wissen wollte, die sie wohlmöglich bislang verdrängt hatte. Dennoch trieb die meisten Menschen ein innerer Motor an, jede noch so winzige Wissenslücke zu füllen, auch wenn die Folgen unangenehm waren.
»Wir wissen es nicht genau. Er ist entweder ertrunken oder erstickt«, berichtete Stern.
»Ertrunken? Mein Mann ist ein ausgezeichneter Schwimmer g’wesen. Wo soll er denn ertrunken sein?«
»Auch das wissen wir nicht.«
»Wo haben Sie ihn g’funden?«
»Auf dem Friedhof.«
Schweigend verarbeitete Silvia Koch diese Nachricht, als hätte sie Schwierigkeiten, das eben Gehörte zu verstehen. Na gut, wenn jemand behauptete, der eigene Mann sei auf einem Friedhof ertrunken, war das tatsächlich außergewöhnlich, fand Stern. Aber wahrscheinlich war ebenso das Beruhigungsmittel schuld daran, dass die Frau im Augenblick so unnahbar wirkte. So distanziert.
»Frau Koch, ist Ihr Mann bedroht worden?«, versuchte Stern erneut, etwas aus der Frau herauszubekommen, das für den Fall relevant sein könnte.
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