»Chefinspektor Stern!«, rief sie und wedelte mit einem Aufnahmegerät in der Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.
Stern fragte sich, warum die Journalistin bereits Kenntnis von dem Mordfall hatte, gab sich aber sofort selbst die Antwort. Die junge ehrgeizige Frau hatte bestimmt mal wieder den Polizeifunk abgehört.
»Frau Winkler«, grüßte Stern zurückhaltend und wollte sich an der zarten Reporterin vorbeidrücken, doch die stellte sich ihm selbstbewusst mit ihren Stöckelschuhen in den Weg. Sie trug ein hellblaues Kostüm, um den Hals hatte sie einen azurblauen Seidenschal gewickelt. In diesem Outfit hätte die Journalistin über einen Catwalk flanieren können, hier vor dem Friedhof wirkte sie eindeutig overdressed.
»Stern, darf ich Sie zu dem Mord interviewen?«, fragte sie mit einem Augenaufschlag wie einst Marilyn Monroe.
»Sie wissen, dass ich Ihnen über laufende Ermittlungen keine Auskunft geben darf. Dafür ist die Pressestelle in der Nietzschestraße am Landeskriminalamt zuständig«, erwiderte Stern gelassen.
»Sie bestätigen also, dass es sich um Mord handelt?«, redete Winkler in ihr Aufnahmegerät hinein und hielt es anschließend Stern hin.
»Das hab ich nicht gesagt«, brummte Stern grimmig. Die Journalistin verstand es jedes Mal, ihn aus der Reserve zu locken.
»Ausgeschlossen haben Sie es allerdings auch nicht.«
Stern blieb stehen. Seine Gelassenheit war wie weggepustet. Eindringlich betrachtete er die Frau. »Wir wissen doch noch gar nicht, ob es Mord war. Wir haben eben erst mit den Ermittlungen angefangen.«
»Können Sie mir zumindest sagen, wer der Tote ist?«, fragte Winkler.
»Solange seine Identität nicht bestätigt ist, kann ich das nicht«, sagte Stern und ging weiter.
»Stern?«, rief Winkler ihm hinterher.
Der Chefinspektor blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um. Er hatte mittlerweile das Friedhofstor erreicht und zog es hinter sich zu. Erleichtert, wie er feststellte, denn dieses Tor bot ihm vor der neugierigen und gleichzeitig scharfsinnigen Frau ein wenig Schutz. Wenngleich er dieses Gefühl als lächerlich abtat. Immerhin war er eine stattliche Erscheinung, vielleicht ein bisschen zu stattlich, wenn er an die paar Kilo zu viel dachte, die er auf die Waage brachte, und die Frau wog gut ein Drittel weniger als er. Was sollte sie ihm da schon entgegensetzen? Dennoch strahlte sie etwas aus, was ihm Respekt einflößte. Es war ihr Verstand, der dieses Gefühl bei ihm auslöste.
»Geben Sie mir ein Exklusiv-Interview, so wie damals, als der Liebenauer Priester ermordet wurde?« Eleonore Winkler klimperte mit ihren stark getuschten Wimpern. Sie wusste ihre weiblichen Reize einzusetzen, das musste Stern zugeben.
»Damals haben Sie mir einen Tipp gegeben, erinnern Sie sich?« Stern hatte hinter dem Tor aus Gitterstäben angehalten.
»Ja, ich erinnere mich«, flötete Winkler durch die Stäbe hindurch. »Wenn ich Ihnen wieder einen Tipp gebe, steht das Interview dann? Die Menschen interessieren sich viel mehr für eine Story, die aus dem Mund eines Chefinspektors stammt«, sagte sie, griff durch die Gitterstäbe, fasste nach dem Revers von Sterns Jacke und zupfte ihn zurecht, »als für die langweiligen Fakten einer Pressestelle.«
Stern, dem Winklers Verhalten langsam unangenehm wurde, überlegte, was schon schiefgehen sollte, wenn er in diesen Deal einwilligte? Eigentlich nichts. »Ich bin gespannt, welchen Tipp ich von Ihnen kriege, der uns hilft, den Mord rascher aufzuklären«, sagte er und wandte sich ab.
»Ich sagte doch, dass es sich um einen Mord handelt«, lachte Eleonore Winkler und klatschte einmal in die Hand. Auch wenn sie draußen vor den Toren des Friedhofs bei den anderen Schaulustigen warten musste, freute sie sich über diesen kleinen Erfolg.
Stern biss sich auf die Lippen. Dass ihm dieser blöde Kommentar entfleucht war, ärgerte ihn. Er hoffte, dass die Reporterin mit dieser Information sorgfältig umging, da sie sich schließlich ein Exklusiv-Interview von ihm erhoffte. Beeinflussen konnte er es nun allerdings nicht mehr.
Mirscher und Kolanski hatten sich indessen in der Leichenhalle einquartiert und befragten dort die auskunftswilligen St. Oswalder.
»Habt ihr etwas herausgefunden, das uns weiterhilft?«, wollte Stern von Gruppeninspektor Hermann Kolanski wissen.
»Nur das Übliche. Einen wirklich Verdächtigen haben wir nicht, aber wir stehen ja erst am Anfang der Ermittlungen«, vernichtete Kolanski Sterns Hoffnung, den Fall rasch zu lösen.
»Okay. Grünbrecht und ich fahren zur Witwe und überbringen ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes«, sagte Stern.
»Ich möchte auf gar keinen Fall mit euch tauschen«, gab Kolanski ehrlich zu. »Da höre ich mir viel lieber an, was die St. Oswalder zu sagen haben, auch wenn vieles davon nur Klatsch und Tratsch ist. Wusstest du, dass die hier das erste oberösterreichische Schnapsmuseum haben?«
»Nein, wusste ich nicht«, brummte Stern und blickte auf die Uhr. Es war längst nach Mittag, sein Magen knurrte. Das trug nicht gerade dazu bei, ihn bei Laune zu halten.
»Das sollten wir uns mal ansehen«, redete Kolanski weiter von dem Schnapsmuseum.
»Ach, sollten wir?« Sterns Stimmung verbesserte sich dadurch nicht wirklich.
»Anscheinend kann man die Schnäpse dort verköstigen«, fügte Kolanski hinzu.
»Ich hab Hunger, Kolanski. Ich brauch etwas zum Beißen und nicht zum Saufen!«, fuhr Stern den Kollegen an. »Außerdem sollst du mit den Leuten nicht über das Schnapsmuseum reden, sondern über das Opfer!«
»Dann sollten wir unbedingt bald etwas essen«, lenkte Kolanski sofort ein, um seinen Chef nicht noch mehr zu reizen.
»Wir treffen uns nachher im Gasthaus im Ort. Ich hab da eines gesehen, als ich hergefahren bin. Liegt direkt an der Straße«, sagte Stern, der selber wusste, dass er im Begriff war, unleidig zu werden. Hunger brachte diese Eigenschaft bei ihm zum Vorschein. Er hielt nach Grünbrecht Ausschau, und als er sie bei Mirscher entdeckte, deutete er ihr, dass sie mit ihm mitkommen solle. Das war auch so eine Sache, die seine Laune regelmäßig in den Keller sinken ließ. Mirscher und Grünbrecht hatten vor zu heiraten, und Bormann, der Dienststellenleiter, lag ihm seit Wochen in den Ohren, dass er die Angelegenheit regeln solle, was bedeutete, dass einer von den beiden die Abteilung verlassen musste. Doch Stern wollte sich nicht für oder gegen einen aus seinem Team entscheiden. Er wollte, dass alles blieb wie es war. Denn so war es gut. Alles lief, wie es laufen sollte.
Wenn er sich für Grünbrecht entschied, dauerte es bestimmt nicht lange, bis sie ein Kind bekam. Dann würde er auch sie verlieren, zumindest für eine gewisse Zeit, die allerdings lange genug war, dass er sich derweilen in den Ruhestand verabschiedete. Das passte nicht zu seinen Plänen, da er sie eigentlich als seine Nachfolgerin vorschlagen wollte. Mara Grünbrecht war die geborene Ermittlerin, hatte ein Gespür für Menschen und einen todsicheren Riecher, was die Motive der Täter anbelangte. Sie war die perfekte Ergänzung zu ihm. Er war der reife, auf Fakten getrimmte Kriminalbeamte und sie eine junge Inspektorin, die auch Bauchgefühle zuließ. Außerdem wäre sie in der Lage, Mirscher und Kolanski eine gute Vorgesetzte zu sein. Wahrscheinlich besser, als er es jemals gewesen war. Und wenn er sich für Mirscher entschied, brauchte er sich zwar über eine lange Babypause keine Gedanken zu machen, so wie er die beiden einschätzte, dennoch war der Kollege nicht so mit dem Herzen ein Ermittler wie Grünbrecht, auch wenn er ein guter Polizist war. Grünbrecht ging mit einer Leidenschaft an die Sache ran, die Mirscher fehlte. Außerdem …
»Wohin fahren wir?«, unterbrach Grünbrecht seine Gedanken.
»Zur Witwe nach Brunngassen in St. Oswald«, antwortete Stern und vertagte die längst überfällige Entscheidung, wer denn nun in eine andere Abteilung wechseln sollte, zum wiederholten Mal auf später.
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