Wie entwickelt sich die Abhängigkeit von Raucherinnen und Rauchern nach dem Umstieg auf E-Zigaretten? Aufgrund erheblicher individueller Unterschiede lässt sich diese Frage nicht allgemein gültig beantworten. Manche Umsteiger berichten von massiver Reduktion des „Suchtdrucks“ und problemloser Abstinenz für viele Stunden oder sogar Tage, die zuvor kaum erträglich war. Viele hören binnen einiger Monate auf zu dampfen und haben somit E-Zigaretten als Hilfsmittel für den Totalausstieg aus ihrem Inhalationsverhalten benutzt. Andere wiederum sind von ihren „Dampfen“ ebenso abhängig wie früher von Zigaretten und haben fast immer ein Gerät in Händen oder zumindest in Reichweite und beabsichtigen nicht, später einmal mit dem Dampfen aufzuhören. Die überwiegende Mehrheit ordnet sich wohl irgendwo in der Mitte zwischen diesen Extremen ein. Ähnlich heterogen wie die anekdotischen Erfahrungsberichte sind auch die Ergebnisse publizierter Studien, die allerdings mit einer Ausnahme auf ein deutlich niedrigeres Abhängigkeitspotential von E-Zigaretten hinweisen [76-79].
Ex-Raucherinnen und -Raucher, die auf das Dampfen umgestiegen sind, halten ihre Nikotinspiegel im Blut weitgehend aufrecht. Es besteht zwar die Tendenz zur Reduktion der Nikotinkonzentration der Liquids, was aber zumeist durch größere Mengen an täglich konsumiertem Liquid kompensiert wird [80]. Entgegen den soeben diskutierten Befunden ist diese offenbar unbewusste Einstellung eines langfristig konstanten Nikotin-Blutspiegels ein Hinweis auf Nikotinabhängigkeit von Umsteigern. Eine mögliche Erklärung wäre die Aufrechterhaltung konditionierter Zigarettenabhängigkeit durch Nikotin. Tatsächlich weisen Tierversuche daraufhin, dass Ratten, die experimentell von Tabakrauch abhängig gemacht wurden, danach signifikant stärkere Nikotinabhängigkeit und andere neuronale Nikotineffekte zeigen als Kontrolltiere [81,82]. Der konditionierende Effekt von Tabakrauch könnte auf Hemmung der Neubildung von Nervenzellen aus Stammzellen, der sogenannten Neurogenese, im Gehirnareal des Hippocampus beruhen [83]. Neurogenese und deren Hemmung bei depressiven Erkrankungen beziehungsweise Förderung durch Antidepressiva ist ein heißes und ausgesprochen kontroverses Thema aktueller Forschung [84,85]. Ein möglicher Zusammenhang von Neurogenese mit den antidepressiven Effekten von MAO-Hemmern im Tabakrauch und Zigarettenabhängigkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Sollten diese Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sein, würde man sich durch das Rauchen eine langfristige Nikotinabhängigkeit quasi anzüchten, während man als Nichtraucher bei Exposition mit Nikotin in Abwesenheit von Tabakrauch nicht abhängig wird. Leider lässt sich die Übertragbarkeit der Tierversuche auf den Menschen aus ethischen Gründen nur sehr eingeschränkt in klinischen Interventionsstudien verifizieren.
Neben allfälligen Effekten von Nikotin spielt bei der Abhängigkeit vom Dampfen mit hoher Wahrscheinlichkeit die bereits besprochene Gewöhnung an das Verhalten eine entscheidende Rolle. In einem Selbstversuch habe ich vor einiger Zeit herauszufinden versucht, ob ich vorwiegend vom Verhalten oder von Nikotin abhängig bin. Leider ist das nicht so einfach, wie es den Anschein haben mag. Beim Dampfen nikotinfreier Liquids fehlt mir – und viele andere berichten Ähnliches – das leichte Kratzen im Hals, das man auch beim Rauchen verspürt. Ohne dieses Kratzen hat man das unbefriedigende Gefühl Alpenluft zu inhalieren. Diese leichte Reizung der Atemwege, auch als throat hit bezeichnet, beruht auf Aktivierung von nikotinergen Acetylcholinrezeptoren auf sensorischen Zellen der oberen Atemwege [86] und trägt maßgeblich zur Befriedigung beim Rauchen bei [87,88]. Für meinen Selbstversuch habe ich mir daher ein besonders kratziges Liquid gemischt und einen ebenso kratzigen Verdampfer gewählt. Eine Woche lang verwendete ich dieses Setup ohne merkliche Entzugssymptomatik. Auch im Zuge einer Infektionserkrankung, bei der das Dampfen aufgrund von Reizung der Atemwege ausgesprochen schmerzhaft war, habe ich einige Tage ohne Probleme darauf verzichtet, allerdings regelmäßig ein Gerät in Reichweite gehabt, dieses in die Hand genommen und damit „gespielt“. Als Raucher hatte ich hingegen bei regelmäßig wiederkehrenden Infektionskrankheiten die Zähne zusammengebissen und trotz heftiger Halsschmerzen geraucht. Aufgrund dieser Erfahrungen gehe ich davon aus, dass ich viele Jahre nach dem Umstieg noch immer vom Verhalten, aber kaum oder gar nicht von Nikotin abhängig bin. Nachdem bekanntlich jeder Mensch anders ist, lässt sich diese Selbstbeobachtung allerdings nicht generalisieren.
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich die regelmäßig wiederkehrenden und mantra-artig wiederholten Warnungen vor Nikotinsucht relativieren. Unabhängig davon, ob diese tatsächlich oder nur in den Köpfen von WHO, CDC und Tabakkontrolle existiert, ist der entscheidende Punkt nicht die mögliche Abhängigkeit an sich, sondern allfällige Schädigung der Gesundheit. Gesundheitsorganisationen führen einen jahrzehntelangen Krieg gegen das Rauchen, weil das ein potentiell tödliches Verhalten ist. Alternative Nikotinprodukte, allen voran E-Zigaretten, könnten dazu beitragen diesen Krieg endgültig zu gewinnen. Nur leider hat die Tabakkontrolle irgendwann den tatsächlichen Feind aus den Augen verloren und bekämpft nunmehr seinen harmlosen Gefährten. Da mir die Botschaft immens wichtig ist, wiederhole ich sie hier: Raucherinnen und Rauchern sterben nicht an ihrer Abhängigkeit, sondern an den Folgen der Inhalation von gesundheitsschädlichem Verbrennungsrauch.
Die Firma Juul Labs ® hat 2015 ein Podsystem (siehe Kapitel 4) mit Nikotinsalzen auf den Markt gebracht. In einer Patentschrift [89] behauptet die Firma, Nikotin würde aus diesen Liquids schneller aufgenommen und die Inhalation würde geringere Reizung der Atemwege verursachen. Die E-Zigarette von Juul hat in den darauffolgenden Jahren einen regelrechten Hype ausgelöst und sehr schnell erhebliche Marktanteile gewonnen. In den Jahren 2018/2019 war die Juul die am häufigsten verkaufte E-Zigarette in den USA. Die „Salzliquids“ von Juul haben sowohl bei der Bevölkerung als auch in Politik und Medien für Verunsicherung gesorgt und aufgrund des vergleichsweise hohen Nikotingehalts von 5 Gewichtsprozent (60 mg/ml in PG/Glycerin 30/70) Sorgen von Eltern und Schulen vor der Nikotinsucht Jugendlicher ausgelöst. Darauf werden wir in Abschnitt 10.11 noch zurückkommen. Hier möchte ich den Begriff „Nikotinsalz“ erklären und allfällige Unterschiede zwischen herkömmlichen Liquids und den „Salzliquids“ der Firma Juul diskutieren. In Abhängigkeit vom pH-Wert (siehe Glossar) liegt Nikotin in wässrigen Lösungen teilweise als freie Base (ungeladen, in der Abbildung links) und teilweise positiv geladen (protoniert, rechts) vor. Im Körper ist der pH-Wert sehr genau auf 7.4 eingestellt, Nikotin liegt daher im Blut zu etwa 30 Prozent ungeladen und zu 70 Prozent protoniert vor.
Gleichgewicht zwischen ungeladenem und protoniertem Nikotin.
Herkömmliche Liquids enthalten vorwiegend basisches Nikotin, bei Zugabe von Säure (H +-Ionen) wird das in der Abbildung dargestellte Gleichgewicht nach rechts, also in Richtung der protonierten Form verschoben. Das in den Liquids der Firma Juul Labs enthaltene Nikotin wird durch Zugabe von Benzoesäure vollständig in die protonierte Form überführt, sodass eine neutrale Lösung mit positiv geladenem Nikotin und negativ geladener Benzoesäure (Benzoat) entsteht. Das entsprechende Nikotinsalz (Nikotinbenzoat) hat also im Zuge der Herstellung der Liquids niemals real als Salz existiert und existiert auch in Lösung nur formal in Form der beiden, voneinander durch Lösungsmittel getrennten, positiv und negativ geladenen Bestandteile. Eine Analogie wäre Kochsalz (NaCl), das in wässriger Lösung umgehend zu positiv geladenen Natrium- und negativ geladenen ChloridIonen dissoziiert.
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