Es besteht kein Zweifel, dass Nikotin durch Stimulierung nikotinerger Acetylcholin-Rezeptoren in den Basalganglien die Freisetzung von Dopamin auslöst und damit zur Abhängigkeit von Raucherinnen und Rauchern beiträgt. Allerdings weisen zahlreiche Befunde daraufhin, dass diese Wirkung von Nikotin die Zigarettenabhängigkeit nur unzureichend erklärt. Einen auch Laien unmittelbar einsichtigen Hinweis darauf liefert die bereits erwähnte geringe Wirksamkeit von Nikotinersatzprodukten bei der Raucherentwöhnung. Die Entwicklung dieser Produkte in den 1970er Jahren beruhte auf der Annahme, dass Nikotin der entscheidende Suchtstoff in Tabakrauch ist und daher die Substitution mit nikotinhaltigen Arzneimitteln Raucherinnen und Rauchern ausreichende Befriedigung bietet. Wie wir heute wissen, ist das nicht der Fall [51,52]. Die Verabreichung von Nikotin in Interventionsstudien wird von Ethikkommissionen kritisch beurteilt und bedarf daher einer guten Begründung des Therapieziels. Daher sind Studien zum Abhängigkeitspotential von Nikotin ohne Tabak rar gesät. In der Fachliteratur findet man aber zwei Studien, in denen die therapeutische Wirkung von Nikotinpflastern bis zu sechs Monate lang an Patientinnen und Patienten untersucht wurde, die niemals geraucht hatten. Nach Beendigung der Studien wurde kein einziger Fall von Abhängigkeit beobachtet [14,26]. Gegen diese Argumente wird zumeist die „Geschwindigkeitshypothese“ der Sucht angeführt, wonach das Suchtpotential einer Substanz umso stärker ausgeprägt ist, je schneller sie aufgenommen wird und in das Gehirn gelangt. Daher würden Zigaretten, aus denen Nikotin binnen Sekunden in das Gehirn gelangt, abhängig machen, wohingegen das bei Pflastern und Kaugummis mit langsamer Anflutung nicht der Fall sei. Abgesehen davon, dass diese Hypothese aus vielerlei Gründen auf wackeligen Beinen steht, ist die Geschwindigkeit der Nikotinaufnahme auch aus medizinischen Nikotininhalatoren relativ schnell und beim Rauchen langsamer als behauptet wird [39]. Beim Dampfen ist die Anflutung von Nikotin im Blut je nach Bedingungen eher etwas langsamer als beim Rauchen, allerdings weist eine 2019 publizierte Studie auf Nikotin-Anflutung im Gehirn mit einer Halbwertszeit zirka 30 Sekunden hin, was im Vergleich zu den bisher vorliegenden Studien zur Anflutung im Blut sehr schnell wäre [53].
Das Suchtpotential von reinem Nikotin, also in Abwesenheit von Tabakrauch, sorgt seit langem für Kontroversen unter Fachleuten. Christine Fowler und Mitarbeiter haben kürzlich in einem exzellenten Übersichtsartikel die divergierenden Befunde in der Fachliteratur beschrieben und die Konsequenzen für die Regulierung von E-Zigaretten und anderen neuen nikotinhaltigen Erzeugnissen diskutiert [54]. Versuche mit Labortieren zeigen weitgehend einhellig, dass zwar Nikotin in Tabakrauch die Tiere sehr schnell abhängig macht, reines Nikotin aber deutlich weniger wirksam ist. Diese Befunde legen nahe, dass Tabakrauch Substanzen enthält, die die suchterzeugende Wirkung von Nikotin verstärken [55-57]. Sowohl in der Tabakpflanze als auch im Tabakrauch wurden mehrere Substanzen mit derartiger Wirkung identifiziert, unter anderem Hemmstoffe des Enzyms Monoamino-Oxidase (MAO), das für den Abbau von Dopamin im Gehirn verantwortlich ist. Demnach würde Nikotin die Freisetzung von Dopamin bewirken, während die mit dem Rauch inhalierten Hemmstoffe der MAO den Abbau von Dopamin blockieren und damit dessen Wirkung synergistisch verstärken [58-62]. Die MAO-Aktivität ist im Gehirn und peripheren Geweben von Raucherinnen und Rauchern signifikant vermindert und erreicht erst Wochen oder Monate nach dem Rauchstopp wieder den Spiegel nichtrauchender Kontrollgruppen [63-65]. Die sehr langsame Erholung der MAO-Aktivität könnte zeitverzögerte Rückfälle nach Rauchstopp ebenso erklären wie die Unzufriedenheit von Raucherinnen und Rauchern einige Wochen nach dem Umstieg auf nikotinhaltige E-Zigaretten ohne die wirkungsverstärkenden Substanzen im Tabakrauch. Depressive Erkrankungen sind mit hohen Raucherquoten assoziiert, und umgekehrt geht Raucherentwöhnung häufig mit depressiven Phasen einher [66-69]. Synthetische MAO-Inhibitoren sind zur Pharmakotherapie von Depressionen zugelassen (zum Beispiel Aurorix®) und Antidepressiva wie Buprion (Zyban®) oder Vareniclin (Champix®) zur medikamentösen Unterstützung der Raucherentwöhnung [70]. Die MAO-Hypothese erscheint daher sehr attraktiv, zu deren Bestätigung sind aber weiterführende Untersuchungen erforderlich. Bisher vorliegende Studien zur Wirksamkeit von MAO-Hemmern bei der Raucherentwöhnung waren nur eingeschränkt erfolgreich [71,72]. Möglicherweise liefert zukünftige Forschung alternative Erklärungen für das hohe Abhängigkeitspotential von Tabakrauch im Vergleich zu reinem Nikotin – und damit neue pharmakotherapeutische Möglichkeiten zur Unterstützung der Raucherentwöhnung [73].
Expertinnen und Experten in der Tabakkontrolle wissen, dass die biologischen Effekte der Rauchinhaltsstoffe nur eine Komponente der Zigarettenabhängigkeit darstellen. Eine weitere wesentliche Komponente ist die Gewöhnung an ein Rauchritual, die Konditionierung des Rauchverhaltens, wie das in der Fachsprache genannt wird. Die Öffnung der Zigarettenpackung, die Haptik der Zigarette in der Hand, das Anzünden, die Handzu-Mund Bewegung, und die Ausatmung des Rauchs sind über viele Jahre konditionierte Verhaltensmuster, von denen man sich nur sehr schwer trennt. Eine rauchende Kollegin, die meiner Empfehlung zum Umstieg auf E-Zigaretten nicht folgen wollte, hat das damit begründet, dass ihr das Abaschen der Zigarette im Aschenbecher fehlen würde. Ein Wiener Trafikant erzählte mir bei einer Veranstaltung, manche seiner Kunden würden bei der Benutzung von E-Zigaretten mit Mundstücken aus Kunststoff oder Metall die physische Beschaffenheit der Zigarettenfilter vermissen und deshalb den Tabakerhitzer IQOS (siehe 5.2) bevorzugen, bei dem ein solcher Filter als Mundstück dient.
Verhaltensabhängigkeit manifestiert sich also in individuell unterschiedlicher Ausprägung. Dass Verhaltensabhängigkeit wesentlich zur psychischen Abhängigkeit vom Zigarettenrauchen beiträgt, steht aber für Fachleute außer Zweifel. Daher sind psychotherapeutische Maßnahmen, vor allem Verhaltenstherapien, zentraler Bestandteil der medizinischen Raucherentwöhnung. Obwohl die körperlichen Symptome des Nikotinentzugs sehr rasch abklingen und spätestens nach einer Woche gänzlich verschwunden sind, scheitern Entwöhnungsversuche oft nach Monaten oder gar Jahren. Daher liegt die Vermutung nahe, dass der Gewöhnung an das Rauchverhalten deutlich größere Bedeutung zukommt als den substanzspezifischen Effekten von Nikotin und anderen Inhaltsstoffen des Tabakrauchs.
Damit sind wir beim wesentlichen Vorteil von E-Zigaretten gegenüber anderen nikotinhaltigen Produkten angelangt. E-Zigaretten erlauben die Beibehaltung des Rauchverhaltens (sofern man auf das Abaschen und den Zigarettenfilter als Mundstück verzichten kann). Eine Änderung des Verhaltens, das zentrale Ziel medizinischer Raucherentwöhnung, wird damit nicht erreicht. E-Zigaretten sollten daher nicht als Nicorette®, Version 2.0. betrachtet werden, sondern als um Größenordnungen weniger schädliche Alternativen zu Tabakzigaretten. Die Aufrechterhaltung des Rauchverhaltens ist jedoch ein zentrales Argument der Gegner, die nur vollständigen Verzicht mit entsprechender Verhaltensänderung als erfolgreiche Raucherentwöhnung akzeptieren. Dass Umsteiger aufgehört haben zu rauchen, ist in deren Augen anscheinend bedeutungslos.
Karl Fagerström, den wir bereits als Erfinder des nach ihm benannten Tests kennengelernt haben, war in den 1970er Jahren maßgeblich an der Entwicklung nikotinhaltiger Arzneimittel zur Behandlung der Nikotinsucht beteiligt. Sein Test fand als „Fagerströmtest für Nikotinabhängigkeit“ Eingang in die Literatur und wurde in hunderten einschlägigen Studien angewendet. Später hat Fagerström allerdings erkannt, dass sein Konzept der Nikotinsucht unhaltbar ist. Konsequenterweise hat er im Jahr 2012 in einer Fachpublikation seinen Test in „Fagerströmtest für Zigarettenabhängigkeit“ umbenannt [74]. In seiner Arbeit diskutiert Fagerström nicht nur die hier erwähnten Argumente, sondern zahlreiche weitere Befunde, die die Existenz klinisch bedeutsamer Nikotinsucht in Frage stellen. Wer meine Argumentation aus verständlichen Gründen mit Skepsis betrachtet, sollte die Ausführungen von Professor Fagerström lesen, der seit Jahrzehnten den inneren Kreisen der Tabakkontrolle angehört und als lebende Legende auf dem Gebiet von Nikotin- und Tabakabhängigkeit bezeichnet werden kann. Im Unterschied zu vielen anderen Vertretern der Tabakkontrolle hat er – wie man das von einem seriösen Wissenschaftler erwarten würde – seine Lieblingshypothese aufgrund der Fakten ad acta gelegt. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Fagerström gelangten Hanan Frenk und Reuven Dar, die 2011 unter dem Titel If the Data Contradict the Theory, Throw Out the Data: Nicotine Addiction in the 2010 Report of the Surgeon General den Bericht über Nikotinsucht des Direktors des öffentlichen Gesundheitswesens der USA anhand der verfügbaren Fachliteratur heftig kritisierten [75]. In der Tabakkontrolle und im öffentlichen Gesundheitswesen ignoriert man die von Fagerström und anderen angeführten Fakten hartnäckig. In einem mit aller Vehemenz geführten Kampf gegen Tabak – der sich mittlerweile in einen Kampf gegen Nikotin verwandelt hat – beharrt man hartnäckig und faktenresistent auf dem angeblich mit Heroin vergleichbaren Suchtpotential von Nikotin.
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