§ 31a BtMG: Absehen von der Verfolgung
(1) Hat das Verfahren ein Vergehen nach § 29 Abs. 1, 2 oder 4 zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, herstellt, einführt, ausführt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft oder besitzt. (…) (Betäubungsmittelgesetz, Stand: 30. Oktober 2018)
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hatte in einem Antwortschreiben die Ablehnung des Vorschlags zum Ausdruck gebracht. Es wurde darin betont, dass als Arzneimittel nur Stoffe definierter Qualität Verwendung finden sollten und daher keine gesetzlichen Ausnahmegenehmigungen für die Verwendung sonst illegaler Cannabisprodukte geschaffen werden sollten. Daher komme eine solche Gesetzesänderung für das Bundesgesundheitsministerium „nicht in Betracht“. Unterstützung für den Vorschlag kam hingegen aus den Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS. Auch einige Länderjustizminister nahmen den Vorschlag wohlwollend auf. Justizminister Prof. Christian Pfeiffer aus Niedersachsen fand ihn sogar nicht weitgehend genug.
3.2.9 2003: erster Freispruch eines Patienten aufgrund eines rechtfertigenden Notstands
Am 27. November 2003 erhielt Michael Große aus Berlin, der an einem Morbus Crohn litt, die richterliche Erlaubnis zum Anbau und zur Verwendung von Cannabis. Richter Michael Zimmermann vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin urteilte, dass sich der Angeklagte in einer Notstandslage befunden habe und die medizinische Verwendung von Cannabis daher gerechtfertigt sei (ACM-Mitteilungen 2017). Der Staatsanwalt verzichtete darauf, in Revision zu gehen. Damit durfte erstmals seit vielen Jahrzehnten ein Patient in Deutschland Cannabis zu medizinischen Zwecken anbauen und verwenden. In den folgenden Jahren folgten in verschiedenen Bundesländern weitere etwa 10 Freisprüche dieser Art.
Zuvor, am 15. Mai 2003 war erstmals ein Patient (Michael Fischer), der an multipler Sklerose litt, in Deutschland von einem Mannheimer Amtsgericht freigesprochen worden. Allerdings war der Staatsanwalt in Revision gegangen, sodass dieses Urteil noch nicht rechtskräftig war. Später wurde auch Michael Fischer nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe im Jahr 2004 freigesprochen.
3.2.10 2004: Oberlandesgericht Karlsruhe bestätigt rechtfertigenden Notstand
Das Oberlandesgericht Karlsruhe urteilte, dass die Einnahme von Cannabis zur medikamentösen Behandlung aus Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigt sein kann.
In einer Pressemitteilung schrieb das Oberlandesgericht:
„Dies hat heute der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe entschieden, jedoch an das Vorliegen einer Straffreiheit strenge Anforderungen geknüpft. Der 44-jährige Angeklagte leidet als Folge einer Mitte der 80er-Jahre bei ihm aufgetretenen Multiplen-Sklerose-Erkrankung an einer Ataxie, welche zu einer Störung seiner Grob- und Feinmotorik, seines freien Gangs, des Standes sowie des Sprachvermögens führt. Diese Ataxie ist nach derzeitigem Stand der Wissenschaft nicht behandelbar. Zur Linderung seiner Beeinträchtigungen nimmt der Angeklagte seit 1987 Haschisch und Marihuana vornehmlich in Form von „Joints“ zu sich, wobei er u.a. Hanfstauden in einer Zwischendecke in seinem Wohnzimmer selbst aufgezogen hat. Wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge – insgesamt wurden bei einer Wohnungsdurchsuchung im Februar 2002 bei ihm 381,99 Gramm Marihuana sichergestellt – erhob die Staatsanwaltschaft Mannheim deshalb im Juli 2002 Anklage zum Amtsgericht Mannheim, welches den Angeklagten im Mai 2003 vom Vorwurf eines strafrechtlichen relevanten Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz freisprach. Nach Ansicht des Amtsgerichts hat sich der Angeklagte nicht strafbar gemacht.“
„Zwar sei der Besitz von Betäubungsmitteln nach dem BtMG verboten, der Angeklagte könne sich jedoch auf den Rechtfertigungsgrund des Notstandes (§ 34 StGB) berufen, weil die bei ihm vorliegende Ataxie nicht anders behandelbar sei und sein Interesse, ein annähernd erträgliches Dasein zu führen, die Belange des Staates am Verbot von Betäubungsmitteln überwiege.“ (Oberlandesgericht Karlsruhe 2004)
3.2.11 2005: Start der Hanfapotheke
Die Hanfapotheke startete im August 2005. In einer Veröffentlichung heißt es: „Die Hanfapotheke soll Schwerkranken helfen, Cannabis zu medizinischen Zwecken zu erhalten, denn die Betroffenen können nicht warten, bis die Politik akzeptable Lösungen findet, und auch die Ratschläge des Bundesverfassungsgerichts sind nicht realitätstauglich. Den Cannabis erhalten sie von anonymen Spendern, die den Betroffenen konkret helfen möchten. Die Hanfapotheke (www.hanfapotheke.org) startet im August 2005“ (ACM-Mitteilungen 2017). Die Hanfapotheke hat bis 2007 gearbeitet, bis erstmals eine Patientin eine Ausnahmeerlaubnis für die Verwendung von Cannabis durch die Bundesopiumstelle erhielt.
3.2.12 2011: Verwaltungsgericht Köln erlaubt Eigenanbau
Das Verwaltungsgericht Köln hat in einem Urteil vom 21. Januar 2011 einem an Multiple Sklerose erkrankten Patienten, der einen Antrag auf Eigenanbau von Cannabis für medizinische Zwecke gestellt hatte, zum Teil Recht gegeben (7 K 3889109). Die Ablehnung des Antrags durch das BfArM vom 10. August 2010 sei rechtswidrig gewesen, erklärte das Gericht. Die Behörde müsse nun neu über den Antrag entscheiden. Die Ablehnung des Antrags war vor allem mit Sicherheitsbedenken beim Anbau in der Wohnung, der Verwendung einer nicht standardisierten Substanz und der Schädigung des internationalen Ansehens Deutschlands durch eine Erlaubnis zum Eigenanbau begründet worden. Zudem argumentierte das BfArM, dass der Antragsteller Zugang zu Cannabis aus der Apotheke habe.
Die Ablehnung seines Antrags auf Eigenanbau basierte auf einer Anweisung durch das Bundesministerium für Gesundheit. Aus den Aktennotizen in den Unterlagen des Antragstellers beim BfArM geht hervor, dass eine Erlaubnis zum Selbstanbau nach Einschätzung des BfArM in seinem Fall „ohne Alternative“ sei, das Institut jedoch der Anweisung Folge leisten musste (ACM-Mitteilungen 2017). Das Bundesministerium für Gesundheit legte Berufung gegen das Urteil ein, sodass abschließend erst 2016 durch das Bundesverwaltungsgericht zugunsten des Patienten entschieden wurde.
3.2.13 2011: Zulassung des Cannabisextraktes Sativex ®
Seit dem 1. Juli 2011 ist der Cannabisextrakt Sativex ®in deutschen Apotheken erhältlich. Er ist für die Behandlung der Spastik bei Erwachsenen mit mittelschwerer bis schwerer multipler Sklerose, die auf andere Therapieverfahren nicht ansprechen, arzneimittelrechtlich zugelassen, sodass die Krankenkassen die Kosten für diese Indikation übernehmen müssen.
3.2.14 2012: Oberverwaltungsgericht Münster erlaubt Eigenanbau
Schwerkranke Bundesbürger dürfen unter strengen Voraussetzungen Cannabis zuhause selbst anbauen. Dies stellte das Oberverwaltungsgericht Münster in einem Urteil vom 7. Dezember 2012 fest. Die Patienten, für deren Erkrankungen keine anderen und zumutbaren Therapien zur Verfügung stehen, jedoch von Cannabisprodukten medizinisch profitieren, könnten einen Antrag an das BfArM in Bonn stellen, damit sie im Rahmen einer ärztlich begleiteten und überwachten Selbsttherapie Cannabispflanzen in ihrer Wohnung anbauen dürfen. Zunächst wurden solche Anträge auf Anweisung des Bundesgesundheitsministeriums grundsätzlich abgelehnt. Diese Praxis sei aber rechtswidrig, erklärte das Oberverwaltungsgericht Münster im Jahr 2012. Eine abschließende Entscheidung zur Frage, ob Patienten unter bestimmten Voraussetzungen Cannabis für den eigenen Bedarf selbst anbauen dürfen, erfolgte erst – wie oben beschrieben – am 6. April 2016 durch das Bundesverwaltungsgericht.
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