„Dumme Empfindungen, die ich mir nur einbilde“, flüsterte er vor sich hin und versuchte, sich wieder auf seine Aufgabe und auf die Umgebung zu konzentrieren. Die Sicht würde ihm keine Möglichkeit geben, lange über eine angemessene Reaktion im Falle eines Angriffes nachzudenken. Er konnte kaum zwei Schritte weit sehen. Selbst in Richtung Dron, wo das rettende Sonnenlicht nicht mehr als drei Schritte entfernt lag, hatte er keineswegs eine bessere Sicht. Es war, als würde er durch einen schwarzen Schleier ins Nichts schauen.
Er besann sich auf E’Cellbras Worte und dieses Mal fiel es ihm auch überhaupt nicht schwer, ihnen Folge zu leisten. „Je eher ich hier wieder raus bin, desto besser“, dachte er und setzte seinen Weg zügig fort. Es roch, als würde man sich einen alten, muffigen Waschlappen unter die Nase halten, der lange Zeit in einem feuchten Raum gelegen hatte und daher nie richtig trocknen konnte. Aber auch das versuchte Dantra zu ignorieren. Er zählte stattdessen seine Schritte und spähte, so gut es ihm möglich war, in seine Marschrichtung.
„Dreißig“, sagte er und drehte sich um. Nichts. Obwohl er spürte, dass er beobachtet wurde, war absolut nichts zu sehen. „Wenn ich nicht angegriffen werde, stellt mich E’Cellbra wieder als Versager dar“, dachte er, „und das, obwohl ich dieses Mal wirklich nichts gemacht habe, was ich nicht machen sollte.“ Aber vielleicht lag darin das Problem. „Vielleicht hat mich nur noch niemand entdeckt. Vielleicht muss ich laut vor mich hin reden oder heftig mit den Füßen aufstampfen.“ Das beklemmende Gefühl in seiner Magengegend nahm stetig zu, und so beschloss er, lieber den Hohn der Hexe zu ertragen. Denn das war immer noch besser, als noch länger in dieser anscheinend ewig dauernden Nacht zu verharren. Und ein Angriff würde unweigerlich das Wiedersehen mit grünen Bäumen und dem blauen Himmel, so wie er sie kannte und liebte, unnötig weiter hinauszögern.
Er begann erneut mit dem Zählen und verhielt sich auch sonst genauso wie auf dem Hinweg. „Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechs...“ Er stockte und richtete seinen Blick auf einen, wie er glaubte erkennen zu können, Vogel, der am Boden direkt vor ihm saß. Er war nicht größer als eine Drossel und wie seine Umgebung von den Krallen bis zur Schnabelspitze tiefschwarz. Für einen kurzen Moment beobachteten sie sich gegenseitig. Dann, als Dantra den nächsten Schritt tun wollte, öffnete er seinen Schnabel und man konnte deutlich kleine scharfe und schneeweiße Zähne erkennen, die Dantra an ein Ölbild aus seinem Lebensformenunterricht der Klosterschule erinnerten. Dieses hatte einen Delfin gezeigt, der ebenfalls sein spitz nach vorn zulaufendes Maul aufgerissen hatte und damit den Blick auf seine Zähne freigab. Jedoch war ein Delfin, nachdem was er gelernt hatte, ein friedliebendes Tier. Bei dem Wegelagerer vor ihm war sich Dantra nicht so sicher.
Ob es seinem Gegenüber gefiel oder nicht, aber es war Zeit, den dunklen Wald zu verlassen. Und so setzte Dantra seinen Weg fort. Doch noch vor dem nächsten Schritt erhob sich der Vogel, bis er mit ihm auf Augenhöhe war. Gleichzeitig mit Dantras Verwunderung über die fledermausähnlichen Flügel des Vogels schoss dieser direkt auf ihn zu. Mehr aus Reflex und nicht als Resultat eines wohldurchdachten Abwehrverhaltens vereitelte Dantra den Angriff, indem er die kleine Kreatur gezielt mit seiner magischen Kraft nach hinten schleuderte. Da dort das Ende des schwarzen Baumwaldes lag, war sich Dantra ziemlich sicher, dass er ihn aus dem finsteren Wald hinauskatapultiert haben musste. Suchend sah er in das bereits erkennbare, aber noch undeutlich und irgendwie dunstig wirkende Sonnenlicht. Es war nichts von dem seltsamen Vogel zu sehen.
„Gut, also nichts wie raus hier“, befahl er sich selbst. Den Blick gen Boden und das linke Bein bereits zum nächsten Schritt angezogen, musste er erkennen, dass sich nun an der Stelle, an der gerade noch sein Angreifer gesessen hatte, fünf von dessen Artgenossen unbemerkt niedergelassen hatten. Als wären sie von unsichtbaren Schnüren gleichzeitig hochgezogen worden, starteten sie nun ihrerseits einen Angriff auf Dantra. Er parierte blitzschnell und ließ ihnen nicht den Hauch einer Chance. Mit sich selbst zufrieden und mit vor Stolz geschwellter Brust setzte er für das letzte Stück zum Laufschritt an. Dabei vermied er es bewusst, vor sich auf den Boden zu schauen. Wenn dort wieder einige dieser Viecher säßen, würde er sie einfach überrennen. Es war höchste Zeit, hier herauszukommen. Und so war er froh, seinem Ziel bereits nahe genug zu sein, um die schemenhaften Umrisse der Hexe erkennen zu können. Doch urplötzlich wurde ihm diese Sicht wieder genommen. Eine schwarze Wolke raste mit unglaublicher Geschwindigkeit aus einer Kurve heraus direkt auf ihn zu.
Es handelte sich um einen ganzen Schwarm dieser Kreaturen. Dantra hielt sie mit aller Konzentration und Kraft, die er aufbringen konnte, von sich fern. Sie prallten eine Armlänge vor ihm gegen ein unsichtbares Hindernis und taumelten unkontrolliert nach hinten weg, als würden sie gegen eine massive Steinwand fliegen. Für einen Moment sah es aus, als wäre Dantra unbesiegbar. Er legte seinen Kopf in den Nacken und fixierte seine Gegner über seine Wangenknochen hinweg. Dabei hielt er seine Hand weit vor sich ausgestreckt, als würde er sie zu Hilfe nehmen, um den unsichtbaren Schutzwall vor sich aufrechtzuerhalten. Diese Pose spiegelte auch sein Gefühl von Stolz und unglaublich großer Macht wider, das in ihm wuchs.
Ein stechender Schmerz jedoch zog ihn zurück in die Realität. Noch bevor die Überlegung über dessen Herkunft abgeschlossen war, hagelte es bereits weitere schmerzhafte Attacken aus dem Hinterhalt. Er drehte sich und versuchte nun, die von beiden Seiten unaufhörlich Angriffe fliegenden Kreaturen abzuwehren. Diese Taktik war allerdings nur von kurzem Erfolg gekrönt. Denn seine schutzlose Rückenflanke wurde erneut Opfer eines gezielten Vogelschwarmangriffs. Die magische Kraft gleichzeitig auf drei verschiedene Richtungen aufzuteilen, überstieg sein Können. Die damit aufkommende Hilf- und Ratlosigkeit ließen ihn ein etwaiges Abwehrverhalten abbrechen und die Flucht in die nun vor ihm liegende Dron-Richtung antreten. Er spürte, wie ihm seine Verfolger im wahrsten Sinne des Wortes im Nacken saßen. Er versuchte, die Äste und Zweige vor sich im Laufen mit den Händen und Armen zur Seite zu drücken. Dabei schnitten diese ihm tiefe Wunden ins Fleisch, da sie scharf wie frisch gewetzte Fleischermesser waren. Sie rissen ihm seine Kleider am ganzen Körper in Fetzen und tränkten sie mit seinem Blut. Neben dem übermächtigen Grau um ihn herum sah das Rot seines Blutes nicht weniger fehl am Platz aus als das Rot auf dem Waldboden, dessen Existenz in seinem Bewusstsein in diesem Moment der schmerzhaften Flucht nur verwischte Spuren hinterließ. Er hatte seine bereits gemachten Schritte nicht gezählt, doch eines war klar, es waren mehr als drei gewesen. Das wiederum bedeutete, dass er das rettende Ende schon längst erreicht haben musste. Stattdessen wurde das Unterholz immer dichter, die Schmerzen unerträglicher und die Hoffnung auf die erlösenden Sonnenstrahlen geringer.
Ein Baumstumpf, den er übersah, ließ seine Flucht endgültig scheitern. Er spürte, dass zwei seiner Zehen dabei brachen, dann schlug er auf dem steinharten Boden auf. Dantra kam es vor, als würden Hunderte von den kleinen Monstern auf ihm landen. Sie zerbissen ihm seinen Körper, als hätte man ihnen ein Stück rohes Fleisch vorgeworfen. Nach ihnen zu schlagen, sich gegen sie zur Wehr zu setzen, stellte sich schnell als sinnlos heraus. So blieb er also zusammengerollt und seinen Kopf unter den verschränkten Armen schützend wehrlos liegen. Er wünschte sich, seine Angreifer hätten längere Zähne, es würde sein Leid wesentlich verkürzen. Er spürte, wie sie sich bereits an manchen Stellen bis zu den Sehnen durchgebissen hatten und nun an diesen zerrten. Er hätte nie geglaubt, dass ein Mensch solch eine Qual ertragen konnte, ohne ohnmächtig zu werden. Aber hier drin, im Dunkel, im Schwarzen, schien alles möglich. Zumindest all jenes, was einem unmenschliche Schmerzen bereiten konnte.
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