Nun war es E’Cellbra, die stehen blieb. Sie sah ihn mit einem Blick an, der ihm sofort klarmachte, dass von ihrer guten Laune nun nicht mehr viel übrig war. Sie streckte ihr buckeliges Kreuz, so gut es ging, durch und wuchs damit eine Handbreit in die Höhe. „Ich hätte es euch schon noch erzählt“, sagte sie leise, aber dennoch bestimmt. „Und über eure Eltern hat er nichts weiter berichtet. Und was das Finden anbelangt, hast du mir nicht zugehört? Er hält es für zu gefährlich, sich mit euch zu treffen. Also, selbst wenn ich wüsste, wo du ihn finden kannst, würde ich es dir nicht sagen. Und nun lass uns weiter.“ Sie setzte ihren Weg fort, und wie zu erwarten zog sie das Tempo dabei wieder einmal merklich an.
Der Rest der Strecke verlief schweigsam. E’Cellbra unterbrach den Marsch erst, als sie an einem tiefschwarzen Waldabschnitt ankamen. „Wir sind da“, sagte sie und betrachtete dabei die vor ihnen hoch aufragende, dunkle Wand aus einer Pflanzenspezies, die Dantra völlig fremd war, mit großer Skepsis.
Die Grenze zu dem übrigen Wald ringsherum schien peinlich genau eingehalten zu werden. Kein Blatt, kein Ast berührte das Dunkel. Die Pflanzenwand lief an der einen Seite einen Hang hinauf und verschwand dahinter, während die andere Seite nur einige Schritte von ihnen entfernt eine Ecke bildete, sich anschließend durch eine lange Senke emporzog und irgendwo in der Ferne verschwand.
„Was ist das für eine grässliche Baumart? Schwarze Äste, schwarze Blätter, selbst die Büsche am Boden und das Erdreich selbst haben diese trostlose Farbe. Es sieht aus, als wäre dort drin tiefe Nacht, und das, obwohl doch die Sonne von Wolken ungehindert direkt darauf scheint.“
„Es ist ein schwarzer Baumwald“, erklärte sie ihm, wobei ihre Stimme fast in einen Flüsterton absank. „Es gibt ziemlich viele von ihnen. Sie sind überall in Umbrarus zu finden. Meist an Orten, wo vor langer Zeit die Pocken oder die Pest alles menschliche Leben dahingerafft hat. Der Tod herrscht über den schwarzen Baumwald.“ Dantra war vor E’Cellbra noch nie einer Hexe begegnet. Doch wenn er früher darüber nachgedacht hatte, wie sich wohl die Stimme eines solchen Wesens anhörte, dann entsprach seine Vorstellung genau dem unheimlichen Ton, in dem E’Cellbra gerade den letzten Satz gesagt hatte. Er ließ ihm die Nackenhaare hochstehen und ein unangenehmes Kribbeln lief ihm entlang der Wirbelsäule den Rücken hinunter. „Der Tod?“, fragte er in einer Mischung aus Angst und Verwunderung, nun ebenfalls mit gesenkter Stimme.
„Na ja.“ Dantra erschrak, denn E’Cellbra sprach jetzt wieder in normaler Lautstärke. „Ich will damit nur sagen, dass es dort drin Geschöpfe gibt, die vom Aussehen her den Anschein erwecken könnten, sie seien bereits tot. Was aber wirklich diese skurrilen Pflanzen wachsen lässt und warum die Tiere dort alles andere als gesund aussehen, weiß niemand so genau. Man kann nur darüber mutmaßen. Manche glauben, es sei dunkle Magie am Werk. Wenn es aber wirklich so ist, dann muss sie sehr mächtig sein, denn so was mit Zauberei zu erschaffen, hinterlässt Spuren, und von denen habe ich noch keine finden können. Die meisten sagen, und das ist auch meine Meinung, es liege daran, dass diese Orte seit vielen Jahren von den drei großen Völkern – den Menschen, den Elben und den Nalcs – gemieden werden. Selbst die Drachen haben Respekt vor dem Unerforschten und halten sich von ihm fern.“
„Und niemand versucht herauszubekommen, was wirklich die Ursache ist?“
„Niemand kann man nicht sagen. Ich zum Beispiel arbeite seit vielen Jahren daran. Aber es ist sehr schwer und vor allem gefährlich. Ich selbst sah mutige Männer, die mit gezücktem Schwert hineingingen und von denen man nie wieder etwas hörte. Verschollen in der Dunkelheit. Anfangs habe ich versucht, die Pflanzen auf ihre Beschaffenheit hin zu untersuchen, aber ...“ Sie machte einige Schritte nach vorn und zupfte eines der schwarzen Blätter von einem Baum. In dem Moment, in dem sie ihre Hand aus dem Schatten zog, zerfiel das Blatt zu so feinem Staub, das nichts von ihm übrig blieb. „Und ich kann auch nicht lang genug drin bleiben, um es dort zu untersuchen.“
„Du warst da drin?“, fragte Dantra entsetzt und zeigte dabei mit dem Finger aufs Schwarze.
„Wie ich bereits sagte, ich forsche seit vielen Jahren hier. Und wenn man einfach nicht weiterkommt, siegt irgendwann die Ungeduld über die Vernunft. Aber so habe ich wenigstens einige Fortschritte machen können.“
„Fortschritte? Was für Fortschritte?“ Dantras Neugierde war geweckt.
„Nun, ich habe einige der Tiere gesehen und konnte geeignete Abwehrstoffe gegen ihre Angriffe entwickeln.“
„Sie greifen einen an?“
„Warum glaubst du, dass du hier bist? Wenn ich dir bloß erzählen wollte, wie es dort drinnen aussieht, hätte ich das auch beim Abendbrot machen können. Dann wäre uns der lange Weg hierher erspart geblieben und mir auch deine überflüssigen Fragen von vorhin.“
„Wie kann man nur so nachtragend sein“, dachte Dantra verärgert, wechselte aber sofort wieder zum ursprünglichen Thema. „Du verlangst also von mir, dass ich da reingehe und mit meinen magischen Kräften gegen diese Kreaturen kämpfe?“
„Ganz genau.“
„Und warum?“
„Weil wir deine Konzentration in außergewöhnlichen Situationen verbessern müssen.“
„Verbessern schon, aber müssen wir dafür gleich mit so einem schwarzen Loch anfangen?“
„Hast du Angst?“
Dantra zögerte. Natürlich hatte er Angst. Noch nie zuvor hatte er etwas Unheimlicheres gesehen. Und er wusste um seine Schwächen, wenn er in Panik geriet. Die Begegnung mit Grey hatte es ihm erst wieder vor Augen geführt. Aber all diese Bedenken wurden klein gestampft von dem, was er am meisten an sich hasste: seinen Stolz. „Ich habe keine Angst. Wenn du da drin warst, dann geh ich auch rein.“
„Schön, schön.“ Er sah in E’Cellbras zufriedenem Gesicht, dass sie ihn genau dazu bringen wollte. Denn sein Hochmut machte nun weitere Überredungsversuche ihrerseits überflüssig. „Doch du musst einige Regeln beachten, sie können dir dein Leben retten.“ Ihre Stimme war nun wieder äußerst ernst. „Geh nicht weiter hinein als dreißig Schritte. Auch wenn bis dahin noch nichts passiert ist, musst du auf jeden Fall umdrehen. Und bleib immer auf dem Trampelpfad. Nur wenn du glaubst, dass du den Rückweg aus irgendeinem Grund nicht schaffst, dann dreh dich in Richtung Dron und mache drei Schritte nach vorn. Der Pfad, der in das schwarze Loch führt, läuft nämlich parallel zur Waldgrenze. Und daher ist das auch immer der kürzeste Weg zurück ins Licht.“ Nun wurde Dantra erst die Merkwürdigkeit bewusst. Obwohl sie am Dron-Ende waren und es ein Leichtes gewesen wäre, am schwarzen Wald vorbeizugehen, führte der Pfad, auf dem sie standen, direkt hinein. „Das macht doch gar keinen Sinn. Warum führt der Weg nicht daran vorbei, wenn doch kein vernünftiger Mensch das Dunkel betritt? Und selbst wenn es Geschöpfe gibt, die sich in dieser finsteren Umgebung heimisch fühlen, weshalb gehen sie dann hier am Rand hinein und nicht irgendwo in der Mitte?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete E’Cellbra und zuckte dabei leicht mit den Schultern, „solange ich hierherkomme, ist der Weg schon da, und das, obwohl ich noch nie gesehen habe, dass ihn irgendjemand benutzt hat. Wie dem auch sei. Es ist Zeit, den vielen Worten Taten folgen zu lassen. Also, konzentriere dich, geh zügig rein und wieder raus. Und mach zur Abwechslung einmal das, was ich dir gesagt habe, verstanden?“
„Ja“, gab er mürrisch zurück. Wenn sie so mit ihm redete, erinnerte ihn das immer an Schwester Arundels herablassende Art.
Er streckte vorsichtig seinen Arm in den Schatten der schwarzen Bäume. Es fühlte sich kalt und feucht an. Als wenn man nach einer verregneten Nacht aus seinem kamingeheizten Haus ins Freie tritt. Als er den ersten Schritt tat und sein Gesicht vom Dunkel überzogen wurde, hatte er den Eindruck, er würde wie von unsichtbarer Hand hineingezogen. Ruckartig wich er zurück. Er drehte sich zu E’Cellbra um, doch die sah ihn nur an, als würde sie sich gleich mit höhnischer Stimme nach seinem Befinden erkundigen. Er wandte sich wieder der Finsternis zu. Mit geschlossenen Augen trat er nach vorn. Er empfand ein Unbehagen, so als würde die Umgebung ihn erdrücken. Als würde sie alles, was er an guten Tugenden und Charaktereigenschaften besaß, in das Gegenteil verkehren. Der kaum spürbare Wind in Dantra selbst, der von seinem Hass genährt wurde, gewann an Kraft und drohte, ein Sturm zu werden.
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