„Was ist denn los?“ Nun klang ihre Stimme wieder gewohnt streng. „Es ist doch bloß ein Wolf. Wenn dir jetzt schon der Angstschweiß auf die Stirn tritt, was passiert dann erst, wenn du einem Troll gegenüberstehst?“
Dantras Blick wechselte zwischen ihr und dem Wolf, der nun so nah herangekommen war, wie er es schon in dem kleinen Birkenwald getan hatte. Er ließ das Kaninchen aus seinem Maul fallen, sah der Hexe noch einmal in die Augen und verschwand in den Tiefen des Waldes.
E’Cellbra packte den leblosen Körper bei den Ohren, hielt ihn Dantra vors Gesicht und fragte: „Schon mal ein Tier gehäutet?“
Sein Schrecken beim Kennenlernen von Grey und der Ekel vor der darauffolgenden Bearbeitung von dessen Beute waren überwunden, als er zum Abendessen am Tisch Platz nahm und die gesamte Hütte nach knusperigem Kaninchenbraten roch. Es war überhaupt der schönste Abend, den er bei der Hexe bis dahin verbrachte hatte. E’Cellbra war mit zu ihnen in den Keller hinuntergestiegen und so redselig, wie er es noch nie bei ihr erlebt hatte. Die familiäre Harmonie ging sogar so weit, dass die Hexe Dantra zu seiner Freude anbot, die Förmlichkeit zu beenden und sie mit Du anzusprechen. Tami hatte zum Nachtisch einen Nusskuchen gebacken, dessen Köstlichkeit er nicht in Worte fassen konnte, und der Rabe, sonst scheu wie ein Reh, fraß zum ersten Mal Krümel aus seiner Hand.
Er erfuhr, dass Magieträger bestimmte Bezeichnungen hatten. Und dabei kam es nicht darauf an, ob sie Menschen, Elben oder einer anderen Lebensform angehörten. Wenn man mit geringen oder mittleren magischen Fähigkeiten ausgestattet war, so war von Hexen beziehungsweise Hexern die Rede. Beim Besitz höherer Magie sprach man von Magierinnen und Zauberern. Aber einen kleinen Unterschied zwischen einem Elb und einem Menschen gab es dennoch. Während der gewöhnliche Mensch ohne jegliche Magie zur Welt kam, war dem Elb eine gewisse Grundmagie genauso angeboren wie das Sehen und Hören. Die einzige Ausnahme stellten die Drachen dar. Denn sie besaßen alle ein hohes Maß an Magie. Und jeder einzelne von ihnen hatte zudem eine einmalige individuelle Fähigkeit: die sogenannte Drachengabe. Die Drachen interessierten Dantra besonders, denn in der Klosterschule wurde dieses Thema prinzipiell totgeschwiegen. Also nutzte er die gute Laune E’Cellbras und bohrte nach. „Um was für Fähigkeiten handelt es sich dabei?“
„Nun, von den meisten Drachen kennt man sie nicht. Doch der, von dem man es genau weiß, trägt den Namen Condire. Er ist einer der boshaftesten und gefährlichsten Drachen überhaupt. Er hat die Fähigkeit, egal, wo sein Name oder der eines anderen Drachen in Verbindung mit Spott, Fluch oder auch Beleidigung genannt wird, dieses umgehend wahrzunehmen.“
„Und was passiert, wenn man einen Drachen beleidigt?“
E’Cellbra schaute ihn skeptisch an. „Du kennst doch sicher das Lied, das Kinder über den Drachenschatten singen, wenn sie anderen Angst machen wollen?“
„Nein.“ Ihr Blick wurde noch skeptischer. Sie räusperte sich und versuchte, einen hohen Ton zu finden. In einer leichten und zugleich jammernden Melodie fing sie an zu singen.
Und fliegt er so tief über dir,
dass du in seinem Schatten stehst,
ist der Tod ganz sicher dir,
auch wenn du dich von ihm drehst.
Für einen Augenblick war es still. Nur das Klackern der Krallen des auf dem Tisch nach Krümeln suchenden Raben war zu hören.
„Soll das heißen“, fing Dantra unsicher an, „sie würden jemanden wegen einer Beleidigung töten?“
„Derjenige, der die Worte sprach, und ein jedes Leben, das nahe genug war, um das Unverzeihliche zu hören, würden den Tod finden.“
Wieder trat Schweigen ein. Dantra konnte nicht glauben, wie schnell man in diesem Land sein Leben verlieren konnte.
„Mich wundert es, dass die Nonnen euch nichts davon erzählt haben“, sagte E’Cellbra nachdenklich. „Denn weder kindliche Naivität noch die Klostermauern könnten den Betroffenen schützen, wenn ein Drache Vergeltung übt.“
„Uns war es verboten zu fluchen, Schimpfwörter zu benutzen und vor allem das Wort Drache in den Mund zu nehmen. Und ihre Namen kennt ohnehin keiner im Kloster, zumindest nicht die Schüler. Von daher hielten sie es wohl für überflüssig, uns auf die Gefahr hinzuweisen.“
„Aber es war sehr verantwortungslos von den Nonnen, es dir nicht wenigstens bei deiner Entlassung zu sagen“, stellte sie leicht erzürnt fest.
Für Dantra gab es dafür nur zwei mögliche Erklärungen. Entweder sie hatten es vergessen oder, was wahrscheinlicher war, sie glaubten sowieso nicht daran, dass er ein langes Leben in dieser Welt zu erwarten hatte. „Hat jemals jemand einen Drachenangriff überlebt?“
„Natürlich gibt es Menschen, die behaupten, ihren lodernden Flammen entkommen zu sein. Das sind allerdings auch die Leute, die dir sagen, dass sie schon einmal ein Einhorn gesehen haben. Ich denke, ich muss also deine Frage mit einem entschiedenen Nein beantworten.“ Auch wenn Dantra davon überzeugt war, dass er es niemals mit einem Drachen zu tun bekommen würde, ging er dennoch an diesem Abend mit einem unguten Gefühl zu Bett. Er starrte noch lange die dunkelbraunen Deckenbalken an und grübelte über das Erlebte nach. Erst als die Dunkelheit das schwindende Licht endgültig besiegt hatte, kroch die Müdigkeit an ihm hoch und ließ ihn einschlafen.
Am nächsten Morgen verrichtete er seine tägliche Arbeit, ohne Zeit zu vertrödeln. Die Ankündigung von E’Cellbra, mit ihm die Beherrschung seiner Kraft unter Stress zu trainieren, trieb ihn an.
Am frühen Nachmittag war es so weit. Sie hatte sich ihren Gehstock und einige Stoffsäckchen gegriffen, einen mit Wasser gefüllten Lederschlauch umgehängt und schlug nun einen Weg ein, den sie, wie Dantra feststellte, bis dahin noch nie gegangen waren. Er führte sie tief in den Fons-Teil des Kampen. Ihr Schritttempo war überraschend normal und ließ Dantra gut mithalten. Ihm schien es die perfekte Gelegenheit für eine Frage zu sein, die ihn schon seit langer Zeit beschäftigte und die er am Vorabend vergessen hatte zu stellen. Denn ihre Laune und ihr Mitteilungsbedürfnis waren, zumindest für ihre Verhältnisse, auch heute noch ausgesprochen gut.
„Sag mal“, fing er zögernd an, „warum hilfst du Tami und mir eigentlich? Ich meine, was hast du davon? Es ist doch sicher gefährlich für dich, Fremde bei dir aufzunehmen. Du wusstest doch gar nicht, ob du uns vertrauen konntest.“
„Gefährlich war es schon“, sagte sie nach kurzem Zögern, „aber über meine Hochachtung vor deinem Vater haben wir ja bereits gesprochen, und außerdem bittet man mich ja nicht jeden Tag um einen Gefallen.“
„Du wurdest von jemandem gebeten, dich um uns zu kümmern?“ Dantra konnte seine Überraschung über diese Antwort nicht unterdrücken.
„Ja“, erwiderte E’Cellbra kurz und schwieg.
„Von wem?“, drängte Dantra sie. Er konnte nicht glauben, dass er ihr immer alles aus der Nase ziehen musste. Vor allem bei solch einem wichtigen Thema.
„Einige Tage bevor Tami ihren neunzehnten Geburtstag feierte, kam ein Mann zu mir. Er sagte, er hätte eure Eltern gekannt und wäre der beste Freund deines Vaters gewesen. Von ihm wusste er wohl auch, wo er mich finden konnte. Er meinte, er hätte deinem Vater seinerzeit versprochen, sich um euch zu kümmern, wenn ihm oder eurer Mutter etwas zustoßen würde. Doch nun, kurz bevor es so weit war, dass er sein Versprechen einlösen konnte, hielt er es wohl für zu gefährlich, wenn man euch zusammen sähe. Und so bat er mich, dass ich euch aufnehme und auf diese für euch fremde Welt und ihre unzähligen Gefahren vorbereite.“
Als sie den Satz beendet hatte, blieb Dantra nachdenklich stehen. Sie waren nun schon fast ein halbes Jahr bei der Hexe. Aber erst jetzt, und vor allem erst auf sein Nachfragen hin, erzählte sie ihm mit einer Selbstverständlichkeit, als würde sie über das Wetter reden, dass es anscheinend nicht weit entfernt jemanden gab, der mit großer Wahrscheinlichkeit über das Schicksal seiner Eltern Bescheid wusste. Er schloss zu der Hexe auf und ließ seinem Fragenrausch mit zorniger Stimme freien Lauf. „Wieso hast du uns das nie erzählt? Was hat er noch über unsere Eltern gesagt? Und wie kann ich ihn finden?“
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