Er stellte sich wieder dem Baum gegenüber auf und konzentrierte sich erneut. Er versuchte nun mehrere Varianten. Als Erstes stellte er sich vor, der Baum würde ihn beleidigen und beschimpfen. Aber es tat sich nichts. Die bloße Vorstellung ließ in ihm keinerlei Wut aufkommen. Dann ging er in Gedanken den kompletten Angriff auf den Baum, bis er gebrochen auf dem Boden lag, immer wieder durch. Doch auch das brachte nicht den erwünschten Erfolg. Es deprimierte ihn sehr, es schon einmal geschafft zu haben ohne die geringste Ahnung, wie.
Der Verzweiflung bereits nahe hatte er noch eine letzte Idee. Er sah den Baum an, schloss erneut für einen Moment die Augen und stellte sich das Gesicht von Schwester Arundel vor. Dann öffnete er sie wieder, betrachtete den Baum erneut, um sich beim nächsten Schließen der Augen das Gesicht seines Erzfeindes Biff ins Gedächtnis zu rufen. Wieder beäugte er den Baum und stellte sich sofort danach die Zerrocks vor, wie sie den Leichnam seines Vaters schändeten. Er merkte, dass er bei diesen Bildern in seinem Kopf wütender wurde, und so wiederholte er die Prozedur wieder und wieder. Doch es geschah rein gar nichts. Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen hörte er resigniert auf. Er senkte den Kopf und ließ nun auch seinen rechten Arm, mit dem er die ganze Zeit auf seinen vermeintlichen Feind gezeigt hatte, lang am Körper hinunterbaumeln.
Er hatte schon oft gehört, dass er ein Versager wäre. Doch heute würde er es sogar glauben. Maßlos von sich enttäuscht, sah er auf das dreckige rote Tuch, jedoch ohne Zorn oder Hass zu empfinden. Eher mit einem gleichgültigen Gefühl sagte er so leise, dass ein neben ihm Stehender es kaum gehört hätte: „Brich.“ Ein ohrenbetäubendes Krachen spaltete die Stille wie eine Axt ein Holzscheit.
Dantra benötigte einen Moment, um zu realisieren, was gerade geschehen war. Er fühlte sich, als wäre die ganze magische Kraft, die für solch einen Zauber nötig wäre, aus seinen Augen geschossen und hätte dabei seine Pupillen mit rausgerissen.
Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, peitschte ihn etwas zu Boden. Er war zwar leicht benommen, jedoch ließ ihn die Panik, nicht zu wissen, wer sein Angreifer war und wo dieser sich gerade befand, blitzschnell aufspringen. Vor ihm drehte sich der Wald und er hatte Mühe, nicht wieder hinzufallen. Er schaute in alle Richtungen, doch nichts war zu sehen. Er war immer noch allein. Dann fiel sein Blick auf das, was vor ihm lag. Wenn sein Kopf nicht so geschmerzt hätte, hätte er sich wohl über seine eigene Angst amüsiert. Die Krone des Baumes, den er gerade mithilfe seiner Kraft gefällt hatte, war es, die ihn zu Boden gerissen hatte.
„Ist doch klar“, dachte er, „die Druckwelle ließ nicht nur das Holz zerbersten, sondern hat auch den abgerissenen Stamm nach hinten gedrückt. Und dann fällt die Spitze des Baumes natürlich nach vorn.“
Er gönnte sich eine kleine Verschnaufpause, um wieder klar im Kopf zu werden. Teilweise war er zufrieden mit sich, hatte er es doch gerade erneut geschafft, seine Magie gebündelt einzusetzen. Allerdings war es auch zum zweiten Mal geschehen, ohne dass er genau wusste, wie. Und das war natürlich inakzeptabel. Also stellte er sich, nachdem der Wald sich nicht mehr um ihn drehte, erneut vor einen Baum, der ungefähr die gleiche Stammdicke hatte wie der erste. Nur dieses Mal vergrößerte er den Abstand zwischen sich und seinem Ziel, um nicht erneut Opfer seines eigenen Zaubers zu werden. Den Standort hatte er zwar gewechselt, allerdings befand er sich an demselben Punkt, an dem er zuvor schon gewesen war. Trotz seiner Ratlosigkeit angesichts seines nächsten Schritts war ihm klar, dass es ihm nichts bringen würde, sich selbst wütend zu machen. Und auch das Ziel mit seiner Hand anzuvisieren, wäre zwecklos.
Er suchte sich einen markanten Punkt am Baum. In diesem Fall war es ein Ast, der auf Augenhöhe gewachsen war und den Mittelpunkt des Stammes markierte. Er konzentrierte sich darauf und murmelte: „Brich!“ Nichts geschah. „Verdammt!“, fluchte er. Was war jetzt wieder falsch? Was war anders?
Nach kurzem Überlegen richtete er seine Konzentration erneut auf das Ziel. Doch dieses Mal machte er sich bewusst, was er wollte, um dann gefühl- und gedankenlos eine Art Druck mit seinen Augen auszuüben. Dieser verstärkte sich sofort. Dantra merkte, dass die Kraft durch seine Pupillen entwich. Doch er spürte auch, dass sie bei Weitem nicht so stark war wie beim ersten Mal. Und auch das Geräusch brechenden Holzes war viel leiser. Enttäuscht musste er feststellen, dass der Baum noch stand. Der Enttäuschung folgte jedoch sogleich Begeisterung. Denn der Ast, den er ursprünglich im Blick gehabt hatte, lag abgebrochen auf dem Waldboden.
Dantra ließ seine Erinnerung an das, was geschehen war, noch einmal Revue passieren. Dabei fiel ihm auf, dass er dem Ast mehr Bedeutung zugemessen hatte als dem Stamm selbst. Er konnte somit seine Kraft explizit einsetzen, sodass er es schaffte, nicht alles zu zerstören, was in ihrem Wirkungsbereich lag. Er musste sich zwar eingestehen, dass auch etwas von der Rinde des Baumes Schaden genommen hatte, legte das aber unter der Rubrik Feinarbeit ab, an der er später noch arbeiten konnte. Getrieben von dem Mitteilungsbedürfnis über seinen Erfolg, wollte er sich gerade auf den Heimweg machen, als er sich nochmals dem Baum zuwandte und ihn mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu Boden fallen ließ.
Vom kleinen Fehltritt mit der Hexe abgesehen, war es ein sehr erfolgreicher Tag gewesen. Nicht nur, dass er seine Kraft nun beherrschte und sie anwenden konnte, wo und wann er wollte, auch Tami hatte große Fortschritte gemacht. Sie nutzte das Erlernte als Erstes, um Dantra den Namen der Hexe aufzuschreiben. An diesem Abend schlief Dantra mit sich und der Welt zufrieden sowie mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein.
Es war früh am Morgen, als er abermals von einem schrillen Schrei geweckt wurde. Dieses Mal brauchte er jedoch nicht lange, um zu begreifen, dass er nur geträumt hatte. Und auch wenn der Traum genauso grauenvoll war wie sonst, so festigte sein Auftreten in dieser Nacht doch die Vermutung, dass er irgendwie mit der magischen Kraft zusammenhing. Und im Gegensatz zu den anderen beiden Malen konnte Dantra heute sogar noch einmal in einen leichten Schlaf fallen.
Lange war es her, dass er so viel Euphorie und gute Laune verspürt hatte, dass er gerne sein mollig warmes Bett gegen seine kalten Kleider tauschte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er sowieso erst einmal dieses Gefühl gehabt, und zwar am Tag der Entlassung aus dem Klosterheim. Und genau wie damals, als er die letzten Stufen der Wendeltreppe hinuntergefallen war, stolperte er nun die Kellertreppe hoch.
Er fing den Sturz mit seinen Händen ab, ignorierte den aus den rauen Dielen ragenden Holzsplitter, den er sich in die linke Handfläche rammte, und baute sich strahlend und mit stolzgeschwellter Brust vor der Hexe auf. „Guten Morgen, E’Cellbra“, sagte er und schaute sie erwartungsvoll an.
Sie aber blickte nur kurz zu ihm auf und verzog dabei keine Miene. Dann wandte sie sich an Tami, die am Herd stand und Dantras Auftritt interessiert verfolgt hatte. Mit betont freudiger Stimme sagte die Hexe zu ihr: „Hervorragend, Tami. Du hast fleißig geübt und große Fortschritte gemacht“, wobei sie das Du deutlich hervorhob. „Ich bin sehr stolz auf dich. Wenn doch nur alle so hoch motiviert an ihre Aufgaben gehen würden.“
Dantra freute sich zwar für seine Schwester, fühlte sich aber beim Lobausteilen übergangen. „Ich beherrsche meine magische Kraft“, berichtete er – und ein etwas angriffslustiger Ton lag in seinen Worten.
„Ich wäre schon froh, wenn du deine Füße beherrschen würdest, anstatt über sie zu fallen“, erwiderte die Hexe nüchtern. Tami wandte sich wieder ihrem brutzelnden Essen zu. Allerdings nicht, weil sonst etwas anbrennen konnte, sondern um ihr Grinsen über E’Cellbras Bemerkung vor Dantra zu verbergen. „Was ist mit deinem Schwertkampftraining?“, fuhr die Hexe fort. „Hast du überhaupt schon einen einzigen Angriff der Arikos parieren können?“
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