„Man gibt als Normalsterblicher jemandem wie mir nicht einfach die Hand. Und vor allem nicht, um damit auch noch jener Person auf die Beine zu helfen. Jeder andere hätte versucht, mich zu töten, oder hätte schnellstmöglich das Weite gesucht, um kurz darauf mit dem halben Dorf im Rücken zurückzukehren. Dein Vater jedoch sagte, er wäre seit fast zehn Jahren der Dullpin des Dorfes, das meinem Haus am nächsten liege. Und da ich ihm bis zu diesem Tage noch keinen Ärger gemacht hätte, würde er mir glauben, wenn ich ihm versicherte, dass es dabei auch bliebe.“ Den Blick wieder ins Leere gerichtet, fügte sie noch hinzu: „Es war wohl der ehrlichste Händedruck, den ich je von einem nicht-magischen Wesen bekommen habe.“ Mit diesen Worten drehte sie sich wieder um und setzte ihren Weg fort.
Von da an reagierte sie nicht mehr weiter auf Dantra. Obwohl dessen Fragenberg immer noch viel zu groß war, um zu schweigen. Aber für jemanden, der normalerweise nicht viel Umgang mit anderen Menschen pflegte, hatte die Hexe wohl für den Rest des Tages genug gesprochen. Denn auch nachdem sie in der Hütte angekommen waren, musste Dantra feststellen, dass es wohl leichter wäre, Tami zum Reden zu bringen, als auch nur eine weitere Antwort von der alten Dame zu erhalten. Somit verschob er seine Wissbegier wieder einmal auf den nächsten Morgen.
Das abendliche Schreib- und Lesetraining fiel an diesem Tag aus. Dantra erzählte seiner Schwester, was er heute über ihren Vater erfahren hatte. Die Freude darüber, wer und vor allem was sein Vater war, nahm ihm die eigentlich angebrachte Trübsal wegen des immer noch vorhandenen Unwissens, ob sein Vater noch lebte oder tot war, und übergoss ihn stattdessen mit einem Glücksgefühl, wie er es zuvor noch nie erlebt hatte. Mit dem Gedanken, dass es das Leben an diesem Tage endlich mal gut mit ihm meinte, schlief er früh ein.
Seine Nacht fand jedoch ein jähes Ende, als er von einem spitzen Schrei in seinem Kopf geweckt wurde. Ruckartig setzte er sich auf und sah sich verwirrt in dem dunklen Raum um. Seine Orientierungslosigkeit legte sich erst, als er das ruhige und tiefe Atmen von Tami wahrnahm. Es war wieder dieser Traum gewesen, derselbe, den er auch schon in dem Kellergewölbe des Klosterheims gehabt hatte. War das Zufall? Unwahrscheinlich.
Oder hatte es vielleicht etwas mit seinem Gefühlszustand zu tun? Nein, diese Möglichkeit konnte er ausschließen. Beim letzten Mal war er im Gegensatz zu jetzt alles andere als glücklich gewesen. „Dann muss es diese seltsame Kraft sein“, dachte er, „die irgendwo in mir ist.“ An ein Wiedereinschlafen war auch dieses Mal nicht zu denken, und es kam ihm vor wie drei Nächte, bis die Hexe endlich durch die Luke auf sie hinabsah, um sie zu wecken. Noch bevor sie etwas sagen konnte, war er schon aus dem Bett gesprungen. Er zog sich um, ohne darauf zu achten, was Tami machte. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal und stellte sich mit wissbegierigem Blick vor die erstaunte Hexe.
„Was ist passiert? Wurdest du letzte Nacht beraubt? Es kommt mir vor, als hätte man dir deine morgendliche Trägheit gestohlen?“ Dantra überhörte ihre zynische Bemerkung und kam gleich zur Sache. Er schilderte ihr seinen Traum in allen Einzelheiten und seine Theorie, womit er zusammenhängen könnte. Die Hexe schwieg einen Moment und man konnte sehen, dass sie ernsthaft über das gerade Gehörte nachdachte.
„In der Tat kann der Traum mit der magischen Kraft in dir zu tun haben“, antwortete sie. „Ich denke, unsere Übungen in der nächsten Zeit werden uns der Lösung etwas näher bringen.“
„Was für Übungen?“, fragte Dantra verwirrt.
„Na, um die besagte Kraft in dir unter Kontrolle zu bekommen und sie zu beherrschen.“
Er sah sie irritiert an. Wie sollte es ihm gelingen, diese unbändige Zerstörungswelle zu kontrollieren? Wenn sie ausbrach, war er ja nicht einmal mehr Herr seiner Sinne. Aber die Antwort darauf konnte warten. Denn in ihm brannte noch eine andere Frage, die er gestern zwar schon einmal gestellt hatte, worauf die Hexe jedoch nichts erwidert hatte. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend fragte er vorsichtig: „Lebt mein Vater noch?“
Sie sah ihn an und Dantra hatte zum ersten Mal den Eindruck, so etwas wie Mitleid in ihren Augen zu lesen. „Nein“, antwortete sie mit Unbehagen in der Stimme. „Ich weiß zwar nicht, warum oder wie er starb, aber eines ist sicher: Die Zerrocks waren sehr erbost über das, was er kurz vor seinem Tod getan hatte. Sie zerrten seinen Leichnam ins Dorf, riefen alle Bewohner zusammen und hängten ihn an einem Baum auf, obwohl schon lange kein Leben mehr in ihm war. Danach verkündeten sie, dass jeder Dullpin im Drachenreich mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben und durch einen Zerrock ersetzt werden würde. Und so geschah es, dass im ganzen Land die Dorfbeschützer, Männer mit ehrlichem Blut, durch drachentreue Bastarde ersetzt wurden.“
Dantras Gedanken und Gefühle überschlugen sich. Was hatte sein Vater getan, dass die Folgen so weitreichend gewesen waren? Warum hatten diese Mistkerle ihm nicht die ihm zustehende Ehre eines ordentlichen Begräbnisses erwiesen und stattdessen seine sterblichen Überreste geschändet? Hass stieg in Dantra auf. Warum erfuhr er erst jetzt von alledem? Seine Wut überlagerte seine Trauer. Die Hexe, die dies wohl erkannte, legte ihre knochige Hand auf seine Schulter. Ob es ehrlich gemeintes Mitgefühl war oder ob sie ihn einfach nur beruhigen wollte aus Angst, Dantra könnte ihre Hütte mit einem unkontrollierten Ausbruch seiner magischen Kraft dem Erdboden gleichmachen, blieb dabei unklar. Doch das war auch egal. Seine Wut verschwand nur langsam und er beruhigte sich erst wieder, als Tami durch die Bodenluke heraufkam und ihn mit feuchten Augen ansah.
„Verdammt“, dachte er und ihm wurde schwer ums Herz. „Wie konnte ich sie nur vergessen?“ Sie hatte natürlich alles mit angehört. Und ihm Gegensatz zu ihm war sie auf eine Antwort, selbst wenn sie anders ausgesehen hätte, nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte ja gar nicht gewusst, dass er diese Frage stellen wollte. Er ging auf sie zu, und noch bevor er sie erreichte, um sie tröstend in die Arme nehmen zu können, liefen ihr dicke Tränen über die blass gewordenen Wangen. Er kannte seine Schwester nur mit einem Lachen auf ihrem wunderschönen Gesicht. Sie weinen zu sehen, zerriss ihm fast seine Eingeweide. Und alles nur, weil er in seiner Neugierde so unvorsichtig und rücksichtslos gewesen war. Obwohl sie sich recht schnell wieder fing und mit zittrigen Händen ihrer Arbeit nachging, wusste Dantra, dass sie sehr litt. Diesem Tag konnte er nichts Gutes mehr abgewinnen, obgleich ihm die Hexe kaum Arbeit auftrug und die Sonne so warm vom Himmel brannte wie in diesem ganzen Jahr noch nicht.
Am darauffolgenden Tag nahm ihn die Hexe gleich frühmorgens beiseite und ermahnte ihn, seine Fragen im Beisein von Tami mit Bedacht zu stellen. „Im Übrigen beantworte ich dir sowieso nichts mehr, solange du keine Erfolge in deiner Ausbildung vorweisen kannst“, klärte sie ihn über ihre Absichten auf, und Dantra musste feststellen, dass sie diese umgehend in die Tat umsetzte.
Als Erstes schulte sie seine Konzentration. Sie reichte ihm ein Glas, in dem sich braune, bleistiftdicke Raupen wild durcheinanderschlängelten. Sie erklärte ihm, dass die Doppelkopfraupen, ein Insekt, von dem Dantra noch nie etwas gehört hatte, aus dem aufrecht stehenden Glas nicht hinauskriechen konnten. Seine Aufgabe bestand nun darin, die frei gelassenen Raupen wieder einzufangen und zurück in das Glas zu werfen, bevor diese es schafften, von dem Baumstumpf, auf dem die Hexe das Glas entleerte, zu entwischen. Die Schwierigkeit bestand nicht nur darin, dass die Tierchen extrem flink waren, sondern auch, dass man sie nur an ihrem daumenlangen Körper fassen konnte. Denn an den jeweiligen Enden saß ein Kopf, an dessen Stirn sich ein spitzer, mit Widerhaken versehener Stachel befand. Nicht nur, dass es ungeheuer schmerzhaft war, diesen wieder aus dem Finger herauszuziehen, schon der erste Versuch brachte Dantra die Erkenntnis, dass die Raupen außerdem ein Gift absonderten, das dem der Wespe ähnelte.
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