Daher möchte ich Dir, als Erinnerung an alte Zeiten, den Mondstein schenken. Auch wenn Du es für Aberglauben hältst: Einmal hat er schon geholfen, daher tu mir bitte den Gefallen und trag ihn!
Nicht, um Dich an mich zu erinnern, oder weil ich mich in Dein Leben drängen will. Sondern um Deiner Familie, um des Babys willen. Trag ihn! Jeden Tag! Wundere Dich nicht, wenn der Stern im Laufe der Jahre immer heller wird, das ist normal.
Ich gehe nach Australien und lebe meinen Traum, wir werden uns also nicht wiedersehen. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen alles Gute und viele glückliche Jahre.
Marleen
»Ich glaube, sie hat dir verziehen. Hoffentlich findet sie ihre große Liebe noch und wird so glücklich wie wir«, meinte Susanne.
»Ja, hoffentlich«, hauchte Patrick und nahm die Hand seiner Frau.
Mr. Eldritchs
Garten
Thomas Heidemann
Willard Elleridge – nennen wir ihn ruhig Mr. Eldritch, das tun alle hier– beginnt seinen allmorgendlichen Rundgang durch den Garten um Punkt sieben, begleitet von seiner englischen Bulldogge Boozer.
Eine Minute später macht er einen frischen Maulwurfshaufen zwischen den Apfelbäumen nahe der Mauer ausfindig. Während sein altgedienter Arbeitsstiefel (Schuhgröße vierundvierzig) die aufgeworfene Erde verdichtet, presst Boozer die Nase in den taufeuchten Rasen und sucht vergeblich die Duftspur des unterirdischen Übeltäters. Weil er weiß, was von einem anständigen Hund erwartet wird, wählt er willkürlich eine Richtung und nimmt heldenhaft die Verfolgung auf.
Aus einer vorsorglich gefüllten Tasche seiner Wachsjacke lässt Mr. Eldritch eine Handvoll Grassamen rieseln. Noch zeigt sich in seiner Mimik keines jener Charakteristika, denen er den Beinamen »der Unheimliche« verdankt. Die Rasenschändung ist ihm keine hochgezogene Braue wert; Mr. Eldritch quälen ganz andere Sorgen.
Zum Beispiel die tags zuvor im Kürbisbeet aufgetauchten Spuren, die eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit winzigen menschlichen Fußabdrücken aufweisen (Schuhgröße sechs). Damit scheiden die üblichen Verdächtigen – Kaninchen, Krähen, Ratten – als Verursacher aus. Hamster vielleicht, die hatte er noch nicht. Sehen wir mal zusammen mit dem alten Griesgram nach, ob über Nacht eines dieser possierlichen Tierchen in der Schnappfalle sein Leben ausgehaucht hat.
»Boozer, du saublödes Viech! Komm her!« Hund und Herrchen trotten Richtung Gemüsebeete.
Es ist Anfang September, und die Kürbisse benötigen noch einige Zeit bis zur Reife. Umso augenscheinlicher ist der unerhörte Umfang eines Exemplars, das die kleineren Nachbarn beiseite drängt wie ein Kuckucksküken seine Stiefgeschwister.
Normalerweise schlägt Mr. Eldritchs Gärtnerherz beim Anblick der wohlverdienten Früchte seiner Arbeit höher, aber er kann sich nicht erinnern, zu diesem absonderlichen Wachstum wissentlich beigetragen zu haben. Sollte er versehentlich eine Schubkarre Pferdemist an einer bereits gedüngten Stelle untergegraben haben? Er kratzt sich am Kinn.
Sein Blick fällt auf die unberührte Schnappfalle.
Ein kleiner Zettel liegt davor. Ein sehr kleiner Zettel, nicht größer als eine Briefmarke, auf den jemand in zierlicher Handschrift etwas gekritzelt hat. Mr. Eldritch muss die Augen zusammenkneifen, um die Nachricht zu entziffern.
Sie könnten jemanden verletzen, steht da.
Boozer beschnüffelt derweil die Falle; der Bügel schnappt zu und verbeißt sich in eine der zahllosen Hautfalten, aus denen sein zerknautschtes Gesicht besteht. Jaulend wetzt Boozer quer durch die Beete davon.
Mr. Eldritch misst diesem Vorfall nur mäßiges Interesse bei.
»Sie könnten jemanden verletzen«, imitiert er näselnd den Tonfall der lokalen Bauerntölpel (seiner Definition nach sind das die meisten Leute jenseits der Mauer).
Dann wird ihm bewusst, dass die Bauerntölpel bereits an der Aufgabe gescheitert wären, ein ausreichend filigranes Schreibutensil aufzutreiben, von der orthographischen Glanzleistung, einen fehlerfreien Satz zu produzieren, ganz zu schweigen. Nein, er hat es hier mit einer gewiefteren Sorte von schlechten Menschen zu tun.
Es bereitet ihm wenig Befriedigung, dieses schwindsüchtige Stückchen Papier zu zerknüllen; es fühlt sich an, als würde man statt mit der Faust mit einem Wattestäbchen auf den Tisch hauen. Wenigstens zeigt Mr. Eldritch uns jetzt das ganze furchteinflößende Repertoire seines Mienenspiels. Tiefe Furchen zerklüften die Stirn. Unter den Schläfen pumpen die Adern wie Feuerwehrschläuche. Die straff gespannten Lippen legen das Zahnfleisch bloß wie ein Tsunami den Meeresboden, kurz bevor er brüllend und malmend an Land springt. Lauft um euer Leben, Kinder, der unheimliche Alte kommt!
»Mr. Elleridge! Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«
Über die Gartenpforte hinweg sieht sich Mr. Eldritch dem besorgten Blick von Mrs. Anne Swanson ausgesetzt, einer rundum rundlichen und rosigen Dame von erfrischender Herzlichkeit, die zu vergraulen er bisher nicht über sich gebracht hat. Auch wenn er es nie zugeben würde, genießt er die gelegentlichen Plaudereien mit ihr.
Er schiebt den Unterkiefer vor und zurück und von links nach rechts, um die Gesichtsmuskulatur wieder geschmeidig zu machen. »Sind nur wieder diese gefräßigen Schädlinge«, schwindelt er.
»Ja, das kann einem schon aufs Gemüt schlagen.« Mrs. Swanson, zwischen deren kräftigen Schenkeln ein Fahrrad klemmt, nickt wissend. Im Hintergrund hören wir Boozer heulen.
»Soll ich Ihnen etwas vom Markt mitbringen, mein Lieber?«
Es ist eine harmlose und wohlbekannte Angewohnheit von Mrs. Swanson, jedermann mit mein Lieber anzureden. Für Mr. Eldritch, der weniger schmeichelhafte Titulierungen seiner Person gewohnt ist, stellt dies indes eine peinliche Indiskretion dar.
»Also …« Er räuspert sich. »Eher nicht. Denke ich.«
Das gemurmelte Denke ich ersetzt das Danke, das er vor etwa zwanzig Jahren aus seinem Vokabular verbannt hat. Es stellt für ihn den Zenit der Galanterie dar.
In diesem Augenblick schießt Boozer von der rechten Seite heran, schlackert mit den Lefzen und schleudert die bissige Schnappfalle direkt vor die Gartenpforte.
Mrs. Swanson reißt die Augen auf. »Mr. Elleridge! Stellen Sie neuerdings etwa diese grässlichen Dinger in den Beeten auf? Damit könnten Sie jemanden verletzen!«
Die Worte sickern langsam in Mr. Eldritchs Bewusstsein. Während ein Teil seiner selbst noch auf dem Dachboden die Kiste mit dem gesunden Menschenverstand sucht, bemächtigt ein anderer sich der Füße und steuert auf Mrs. Swanson zu. »Haben Sie das geschrieben?«
Mrs. Swanson, mehr indigniert als eingeschüchtert, pflückt das zerknitterte Zettelchen aus seiner zitternden Hand, streicht es behutsam glatt und liest. Anschließend blickt sie Mr. Eldritch mit ernster Miene in die Augen. »Machen Sie uns einen Tee, mein Lieber! Ich würde Ihnen gerne etwas erzählen.«
***
»Gnome?« Tee schwappt über den Rand von Mr. Eldritchs Tasse.
»Aber ja!« Mrs. Swanson nickt eifrig. »Mein verstorbener Ehemann, Gott hab ihn selig, hatte regelmäßig welche in seiner Werkstatt.«
»Sie wollen mir nicht erzählen, Sie hätten schon einmal Gnome gesehen!«
»Nein, ich nicht. Und auch mein Jacob nicht. Aber die Gnome haben sich manchmal Werkzeug ausgeborgt, und wenn sie es zurückbrachten, war es wie neu.«
»Mrs. Swanson …«
»Und in einer Nacht haben sie die klappernden Schindeln festgenagelt. Jacob konnte ja wegen seines schlimmen Knies nicht mehr aufs Dach steigen.«
»Mrs. Swanson…«
»Und erinnern Sie sich an den strengen Winter vor zwölf Jahren? Da haben die kleinen Kerle sich an unserer Kohle bedient und öfter was aus der Speisekammer mitgehen lassen. Morgens lagen dann immer diese freundlichen Briefchen da. Entschuldigung hierfür, Dankeschön dafür …«
Читать дальше