»Hallo?«
Zögernd näherte sie sich dem altmodischen Verkaufstresen, die Dielen unter ihren Füßen knarrten protestierend. Um besser zu sehen, zog sie ihr Handy aus der Tasche und benutzte das Display als Taschenlampe. Der Strahl huschte über verblasstes Holzspielzeug, einen Globus und immer wieder Bücher, vom Alter gebeugt und zerfleddert. Porzellanpuppen mit aufgemalten Gesichtern glotzten sie vorwurfsvoll an, während sie von dem kalten LED-Licht geblendet wurde.
»Oh, verzeihen Sie, meine Liebe. Ich habe keinen Besuch erwartet.«
Die Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken wie Fingernägel auf einer alten Schultafel.
Marleen fuhr herum. Vor ihr stand ein Mann unbestimmten Alters. Seine hagere, hochaufgeschossene Gestalt steckte in einem Morgenmantel oder Kaftan. Jedenfalls in einem Kleidungsstück, das vor ihrer Zeit modern gewesen war. In das schmale Gesicht hatte die Zeit tiefe Furchen gefräst. Man hätte es aristokratisch nennen können, wenn die lange Nase und die kaum vorhandenen Lippen den Gesamteindruck nicht gestört hätten.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann.
»Sind Sie Herr Mondstein?«
Er nickte. »Albert Nicolas Mondstein. Zu Ihren Diensten.«
Marleen räusperte sich. »Gut. Ähm, ich komme wegen der Anzeige.« Mit zitternden Fingern legte sie die zerknitterte Annonce auf den Tresen, wo sie unbeachtet liegen blieb.
»Das heißt, eigentlich komme ich wegen der Frau im Krankenhaus«, fuhr sie fort. Was redest du da?
Der Mann zog die Brauen hoch und schwieg.
Sie begann zu schwitzen. »Also, es geht um meinen Verlobten. Patrick. Er liegt im Sterben, weil«, sie räusperte sich erneut, »Krebs. Im Endstadium. Und da war diese Frau, die sagte, dass Sie mir helfen können. Sie hätten ihr auch geholfen, mit Herbert. Damit er weiterlebt, verstehen Sie? Jedenfalls würde ich alles tun, alles. Weil – ich ihn liebe«, schloss sie lahm.
Der Mann betrachtete sie stumm. Eine Minute, zwei, ihr halbes Leben? Sie hätte es nicht sagen können.
Plötzlich lächelte er. »Wie sehr lieben Sie Ihren Verlobten?«
»Mehr als mein Leben!«, antwortete Marleen, und sie fühlte tief in ihrem Inneren, dass es stimmte.
»Ausgezeichnet!« Herr Mondstein rieb sich die dünnen Finger. »Dann habe ich etwas für Sie.«
Er verschwand in einem Nebenraum und kehrte kurz darauf mit einer kleinen Schmuckdose zurück. Andächtig öffnete er das Kästchen und hob eine silberne Kette heraus, an der ein weißer, zu einem Herzen geschliffener glitzernder Kristall hing.
»Was ist das?«, fragte Marleen, gefangen von der Reinheit des Steins.
»Das, meine Liebe, ist ein Mondstein.«
»Ein Mondstein? Er heißt wie Sie?«
»Umgekehrt. Ich habe mich nach diesem Stein benannt, weil er ein überaus seltenes, kostbares Exemplar ist. Genau wie ich.«
Er lachte über seinen eigenen Witz, während Marleen sich mit Mühe ein Schmunzeln abrang.
»Und wie soll der helfen?«
Er schaute sie an wie ein begriffsstutziges Kind. »Ich könnte Ihnen was von Meteoriten auf ihrem einsamen Weg durch das Universum erzählen, und von Sternengeburten, aber das wäre profan. Stattdessen spreche ich von einem Stein, geformt aus den Tränen des Nordwinds, gehärtet in den Feuern des Polarlichts und von solcher Seltenheit, dass seine Existenz allein an ein Wunder grenzt. Dabei ist das noch nicht alles.«
Schweigend sah er Marleen an, die darauf wartete, dass er weitersprach.
»Auf seinem Weg durch die Mysterien des Weltalls hat er eine einzigartige Kraft gesammelt, die einen immer wieder staunen lässt: das Leben selbst.«
Marleen sah ihn irritiert an. »Ich verstehe nicht«, bekannte sie schließlich.
Er lächelte. »Dieser Kristall«, er hielt das Herz mit Daumen und Zeigefinger gegen das Licht, sodass die Strahlen darin funkelnde Regenbogen gebaren, »dieser Stein konserviert das Leben selbst. Er speichert Lebenskraft. Geben Sie mir Ihre Hand.«
Zögernd streckte Marleen ihre rechte Hand aus. Überraschend kräftig schlossen sich seine knochigen Finger um ihr Handgelenk.
Er legte den Kristall auf den Tresen, zog eine Schublade auf und zog eine lange Nadel hervor.
Marleen zuckte zurück, doch er hielt sie fest.
»He? Was … Au! Sind Sie verrückt geworden?«
Blut quoll aus einem Loch mitten in ihrem Handteller, doch Mondstein ließ die junge Frau nicht los.
»Sind Sie vollkommen übergeschnappt?«
Schweigend ließ der Alte den Stein in ihre Hand gleiten und schloss ihre Finger darüber zur Faust.
»Was …?«
Er legte den knochigen Zeigefinger auf seine Lippen. »Lassen Sie uns teilhaben an den Mysterien des Universums.«
Da das offenbar die einzige Antwort war, die er zu geben gedachte, blieb Marleen nichts übrig, als zu warten. Sie spürte das Herz in ihrer Handfläche. Es pulsierte warm, als wäre es lebendig. Ihre Handfläche pochte.
»Das dürfte reichen«, unterbrach er ihre Gedanken und ließ los.
Misstrauisch faltete Marleen die Finger auseinander und stieß einen kleinen Schrei aus. Ihre Handfläche war nicht blutverschmiert, wie sie erwartet hatte. Stattdessen leuchtete das Herz, das sie für einen einfachen Bergkristall gehalten hatte, in reinem, klarem Rubinrot. Der Alte nickte zufrieden.
»Das ist unmöglich. Ich meine, wo ist das Blut? Ist das ein Trick? Ich verstehe nicht …«
»Sie halten das für einen Trick? Ah ja! Sie denken an diese Metalle, die ihre Farbe je nach Temperatur ändern. Das ist Kinderkram! Dieser Stein jedoch«, wieder schloss er ihre Finger um den Anhänger, »dieser Stein hat Ihre Lebenskraft aufgenommen.«
Marleen öffnete den Mund, doch er hielt abwehrend die Hand in die Luft. »Nicht alle. Fünf Jahre, würde ich schätzen. Solange Ihr Verlobter diesen Stein trägt, wird Ihre Kraft, Ihre Lebensenergie, auf ihn übergehen. Fünf Jahre, die Sie Ihrem Patrick geschenkt haben, und die Sie kürzer leben werden.«
»Fünf Jahre, die ich ihm geschenkt habe«, flüsterte sie. Ungläubig strich sie über den Handteller, in dem die Wunde weder zu sehen noch zu fühlen war. Ein Stück Leben, das dir genommen wurde, raunte eine kleine, böse Stimme in ihren Gedanken. Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie eine lästige Mücke verscheuchen.
»Also, der Kristall ist mit meinem Blut – meinem Leben? – rot geworden? Was, wenn ich ihn …?«
»Er wird dunkler, je länger Sie ihn in der Hand halten, ja. Und umgekehrt …« Er brach ab.
»… verblasst er, je mehr von dem darin gespeicherten Leben verbraucht ist«, beendete Marleen den Satz. »Wie eine Batterie.«
Er nickte.
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das war – ungeheuerlich! Wahnsinnig und furchtbar zugleich.
»Sie sind ein Monster«, flüsterte sie. »Das heißt: Ich schenke ihm fünf Jahre und müsste dafür dabei zusehen, wie sein Leben wieder zu Ende geht? Noch einmal könnte ich das nicht ertragen!«
»Es liegt an Ihnen, diese Batterie wieder aufzuladen«, bemerkte er kalt.
»Und jedes Mal verliere ich einen Teil meiner eigenen Lebensjahre?«
Er lachte. »Sie waren bereit, für ihn zu sterben. Nun, das werden Sie. Aber schließlich sterben wir alle irgendwann. Sie eben ein bisschen früher, als die Natur vorgesehen hatte.«
Das blutrote Herz lag in ihrer Hand wie eine offene Wunde. Heiße Wellen schossen durch ihren Körper.
»Das … ist grotesk! Abnorm! Ich gebe ihn zurück. Hören Sie? Ich will ihn nicht. Ich mache den Deal rückgängig.«
Sie legte den Anhänger auf die Theke.
Er schüttelte den Kopf. »Einen Vertrag, der mit Blut geschlossen wurde, kann man nicht einfach auflösen. Sie müssen den Stein zertrümmern, wenn Sie Ihre Jahre zurückhaben wollen. Doch in dem Fall …«, er kam um den Tresen herum und baute sich unmittelbar vor ihr auf, »… würde Ihr Geliebter umgehend sterben.«
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