Langsam stieg Panik in mir auf. Wie war das Messer in die Hände des Mannes gelangt?
»Ein wunderschönes Stück!« Der kleine Mann seufzte, stand auf und schlurfte mit langsamen Schritten auf mich zu, das ausgeklappte Messer erhoben.
Noch während ich überlegte, ob ich umdrehen und wegrennen oder versuchen sollte, mir das Messer zurückzuholen, klappte er die Klinge mit einem Klick zurück in den Griff.
»So eine meisterhafte Arbeit habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«
Mit einem Satz, den ich ihm nicht zugetraut hätte, überwand er den Abstand zwischen uns und schob das Messer zurück in meine Hosentasche, wobei seine Hand einen Augenblick länger als nötig auf meinem Oberschenkel verharrte.
Er grinste. »Ich würde beim nächsten Mal besser auf das gute Stück aufpassen.«
Meine Finger schlossen sich um den Messergriff in meiner Tasche. Das Metall unter meiner Haut zu spüren, beruhigte mich und gab mir ein wenig Sicherheit zurück.
»Was willst du eigentlich hier, Schätzchen?« Der Mann hatte sich mittlerweile wieder hinter seinen Tresen gesetzt und gähnte ungeniert. »Zu Moriartys monsterhafter Mode hättest du links am Zelt vorbeigemusst.« Seine Augen glitzerten vor Abscheu. »Wenn es dir nichts ausmacht, dann schlag doch die Plane beim Rausgehen zu, damit ich nicht erneut beim Schlafen gestört werde.«
»Ich will ins Kabinett!«, antwortete ich.
Schlagartig verschwand das Grinsen von seinem Gesicht. »Wirklich? Das ist nichts für dich, Kleine. Schon viel stärkere und cleverere Leute vor dir haben sich in den unendlichen Welten der Spiegel verloren.« Erneut glitt sein Blick über meine Figur. »Allerdings selten hübschere.«
Von Minute zu Minute fühlte ich mich unwohler in meiner Haut, aber da ich bereits bis hierher gekommen war, wollte ich nun sehen, was sich hier verbarg. Da ich ohnehin maßlos enttäuscht vom Jahrmarkt war, konnte es nicht mehr schlimmer werden.
Ich straffte meine Schultern, zog einen Fünfeuroschein aus der Tasche und knallte ihn auf die Theke.
»Es interessiert mich nicht, was Sie sagen. Ich will zu den Spiegeln.«
Langsam griff der Zwerg nach dem Geldschein und zerrte an der altmodischen Kasse, die erst nach einigen Versuchen mit einem lauten Knarren aufsprang. Wie lange hatte er sie nicht mehr geöffnet?
»Mir soll’s egal sein.« Der Mann seufzte. »Ich werde dich nicht aufhalten. Sag nachher aber nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Ich ignorierte ihn und betrat das Kabinett. Es war, wie ich zähneknirschend zugeben musste, viel besser, als es von außen den Anschein machte. Im ganzen Zelt herrschte ein pulsierendes, intensives Licht, das sich in den Dutzenden, wenn nicht Hunderten mannshohen Spiegeln brach, die den Weg durch das Labyrinth markierten. Die Glasflächen waren makellos, warfen die Bilder in allen denkbaren Formen gestaucht, verzerrt oder umgedreht zurück. Bereits nach wenigen Schritten hatte ich im Labyrinth der Spiegel die Orientierung verloren. Was das Ganze jedoch auf einem Mystery-Jahrmarkt zu suchen hatte, war mir schleierhaft. So interessant es hier auch war, mit Horror hatte es nichts zu tun.
Dennoch hob sich meine Laune merklich, als ich von Spiegel zu Spiegel ging und versuchte, meinen Weg aus dem Labyrinth zu finden. Doch egal, wie viele Gänge ich entlang lief, es tauchte einfach kein Ausgang auf. Panik drohte mich zu übermannen, als ich immer schneller durch die Gänge hastete, auf der Suche nach dem rettenden Ausgang.
Schließlich blieb ich ausgepumpt und verwirrt stehen. Das Zelt war zwar groß, aber nicht gigantisch. Es war schlichtweg unmöglich, dass ich das Ende des Labyrinthes verfehlen würde, wenn ich konzentriert an die Sache heranging. Um mich besser orientieren zu können, beschloss ich, mich rechts an der Spiegelwand entlang zu tasten, bis ich auf den Ausgang oder den Eingang stoßen würde. Mit neuer Entschlossenheit ging ich auf den Spiegel zu, streckte die Hand aus und … schrie auf. Das Glas unter meinen Fingern fühlte sich glühend heiß an. Ich fuhr zurück und blinzelte die Tränen des Schmerzes aus den Augen. »Reiß dich zusammen!«, versuchte ich mich zu beruhigen. Wer auch immer für diese Effekte verantwortlich war, hatte seinen Job gut gemacht.
Plötzlich veränderte sich das Licht.
Ich blickte hoch. Anstelle meiner Reflexion war in den Spiegeln eine Landschaft aufgetaucht. Goldene Weizenfelder in voller Blüte glitzerten im Sonnenschein und bildeten einen scharfen Kontrast zu dem dunklen Wald, dessen Bäume bis in den Himmel zu reichen schienen. Mit offenem Mund drehte ich mich im Kreis. Es sah so realistisch aus!
Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr und wandte mich nach links. Auf der Scheibe war eine humpelnde Frau aufgetaucht, die mehr schlecht als recht über die Felder stolperte und aus zahlreichen Wunden blutete. Ein Mann in einer pechschwarzen Rüstung verfolgte sie mit erhobenem Schwert. Mitten auf dem Acker blieb die Frau stehen und trat dem Mann, der sich mit Riesenschritten näherte, mit erhobenen Händen entgegen. Gebannt verfolgte ich das Geschehen. Das war besser als jedes Kino!
Als die Klinge des Mannes in einer fließenden Bewegung in den Körper der Frau fuhr, schrie ich auf. Was für ein sinnloses, grauenvolles Ende.
Plötzlich hob der Ritter im Spiegel den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Langsam, fast gemächlich zog er sein Schwert aus dem Körper der Frau und kam näher. Mit jedem Schritt wurde sein Bild im Spiegel größer. Als er es vollends ausfüllte, schwang er seine Waffe.
Ich sprang instinktiv zurück und … krachte durch den Spiegel hinter mir.
Ein lautes Sirren durchbrach meine Gedanken. Intuitiv rollte ich mich zur Seite. Dort, wo ich gerade noch gelegen hatte, fuhr das Schwert des Ritters ins Gras.
Ins Gras?
Ich sprang auf. Was war hier passiert? Ich stand in der Landschaft, die ich in den Spiegeln gesehen hatte. Rasch drehte ich mich im Kreis, doch das Kabinett war verschwunden. Panik drohte mich zu übermannen.
»Vorsicht!«, schrie eine Stimme in meinem Kopf und ich warf mich zu Boden, gerade rechtzeitig, um dem nächsten, kraftvollen Schwerthieb auszuweichen, der mich mühelos in zwei Hälften geteilt hätte.
Wie von Zauberhand sprang das Messer aus der Tasche in meine Hand. Hass loderte in mir auf und übernahm die Kontrolle. Reflexartig duckte ich mich unter dem nächsten Schwerthieb hinweg, eine Zuschauerin im eigenen Kampf. Blind vor Wut stieß ich dem Ritter das Messer in die ungeschützte Stelle an seiner Seite. Bevor ich realisierte, was geschehen war, schlug der Angreifer mit einem lauten Knall auf dem Boden auf. Nur langsam ebbte das Adrenalin in meinem Körper ab. Ich schauderte. Woher wusste ich überhaupt von der Schwachstelle in der Rüstung des Kriegers? Meine Knie begannen zu zittern, schnell übertrug sich das Beben auf meinen ganzen Körper. Was war mit mir passiert? Und wo hatte ich gelernt, so zu kämpfen?
Vorsichtig näherte ich mich dem Fremden, der in einer immer größer werdenden Blutlache lag und sich nicht bewegte.
Ich war … ein Monster!
Als hätte das Wort einen Schalter umgelegt, erinnerte ich mich wieder an die Bilder aus dem Spiegel. Der Ritter war auch nicht besser, hatte eine hilflose Frau umgebracht. Ich ließ meinen Blick über die Felder schweifen und sah ihren Körper einige Dutzend Meter entfernt liegen. Das Messer immer noch in der Hand, näherte ich mich der Fremden.
Überrascht stellte ich fest, dass sie noch atmete. Ihr blutverschmiertes Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor, doch ich konnte nicht sagen, woher.
Plötzlich schlug sie die Augen auf, die sich vor Schreck weiteten.
»Was machst du hier? Verschwinde, ehe sich die Durchgänge zwischen den Welten wieder schließen!«
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. »Aber … wie? Was … warum?«, stotterte ich, unfähig, meine Gedanken in Worte zu fassen.
Читать дальше