***
Da meldete sich die erste Stimme wieder zu Wort. Eindringlich sagte sie:
Woher kommst du?
Wohin gehst du?
Was ist dein Glück?
»Glück!« Annika spie das Wort förmlich aus. »Wer redet denn von Glück? Wie könnte jemand wie ich je wirklich glücklich sein?«
Das Stimmchen piepste: Wie viel braucht es denn dazu?
Annika schwieg. Mindestens, so dachte sie trotzig, braucht es dazu Beine!
Deine Beine sind nicht das Problem, fuhr die leise Stimme sie so scharf an, als hätte sie jedes ihrer gedachten Worte genau gehört. Du bist blind und taub! Sieh hin!
Annika blickte sich irritiert um, denn die Lichtung hatte sich nicht verändert. Das emsige Summen der Bienen hatte allerdings aufgehört, auch die Insekten zogen sich vor dem Regen zurück. Die goldgelben Blütenköpfe der Butterblumen wippten auf ihren dünnen Stängeln, wenn ein Wassertropfen sie traf. Sie beugten kurz die Köpfchen, dann richteten sie sich selbstbewusst wieder auf.
Zögerlich streckte Annika ihre Arme aus und strich über das feuchte Gras auf dem Boden. Jetzt prasselte der Regen bereits mit dicken Tropfen auf das Blätterdach der Esche nieder. Ein großer, brauner Vogel, der unter dem Baum Schutz gesucht hatte, ließ einen krächzenden Laut vernehmen. Es roch nach feuchter Erde.
In Annika reifte ein Entschluss. Sie wusste nicht, woher er plötzlich kam, doch er war da und er ließ sich nicht mehr abschütteln. Entschlossen stemmte Annika ihre Füße in den weichen Waldboden und schob sich, mit dem Rücken fest an den Stamm der Esche gedrückt, hoch. Es kostete sie große Anstrengung, bis sie auf ihren wackeligen Beinen stand. Der harte Baumstamm stützte sie. Jetzt regnete es in Strömen. Ohne Unterlass fielen die Tropfen auch durch die schützenden Blätter der Esche. Annika fing einen Regentropfen mit der Zunge und ließ die kalte Flüssigkeit im Mund zergehen. Ein Grinsen glitt unwillkürlich über ihre Lippen.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gelehnt hatte. Annika verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit, vielleicht stand der Moment auch einfach still unter der Esche. Obwohl es immer noch regnete, fühlte Annika, dass es an der Zeit war zurückzukehren. Womöglich sorgte man sich bereits um sie.
***
Als die besorgten Betreuer Annika völlig durchnässt und fröstelnd vom Regen auf den Stufen zur Terrasse fanden, fürchteten sie bereits das Schlimmste. Der umgestoßene Rollstuhl lag am Fuß der steinernen Treppe.
Doch Annikas Augen strahlten.
Sie bestand darauf, auf den Arm ihrer Erzieherin gestützt, selbst zum Haus hinauf zu steigen. Ihre Schritte waren ungelenk und langsam, glitten auf den nassen Stufen mehrmals ab, aber Annika ließ sich endlich einmal nicht davon beirren. An diesem Frühlingsabend hatte Annika unter der Weltenesche etwas erfahren, was ihr niemand mehr würde nehmen können:
In der Vergangenheit zu leben, machte traurig.
In der Zukunft zu leben, machte Angst.
Aber wenn du glücklich sein willst, genieße das Hier und Jetzt.
Und: Glücklichsein hängt nicht davon ab, ob man seine Beine bewegen kann.
Spiegelwelten
Erik Huyoff
Gelangweilt ließ ich meinen Blick über das Gelände schweifen. Seit ich ein kleines Kind gewesen war, mochte ich den Halloween-Jahrmarkt, der jedes Jahr im Oktober mit seinen Attraktionen alle Kinder und Erwachsenen zu erschrecken versuchte.
Noch genau erinnerte ich mich an meinen ersten Besuch vor zwölf Jahren, als mir meine Großmutter in der Geisterbahn Geschichten von fremden Welten erzählte. Zwei Nächte lang verfolgte mich das Grauen des Jahrmarktes. Doch entweder war ich mit den Jahren abgestumpft, oder die Attraktionen hatten an Qualität verloren, denn seit einiger Zeit jagte mir hier nichts mehr einen Schrecken ein. Die Freakshows und Kuriositätenkabinette, selbst die berühmt-berüchtigten Vorführungen der Hexer zauberten mir höchstens ein Gähnen aufs Gesicht. Dass ich in diesem Herbst den Jahrmarkt überhaupt wieder besuchte, war wohl eher der Nostalgie als wirklichem Interesse geschuldet.
Ich trank einen Schluck meines Blutorangensafts und tauchte in das Gewimmel ein. Zwischen den ganzen Goth-Queens und Vampirverschnitten in Designer-Anzügen, die von Zelt zu Zelt pilgerten, um gestellte Selfies vor den Attraktionen zu schießen, kam ich mir in meinen ausgeblichenen Jeans komplett verloren vor. Wann war eigentlich der Jahrmarkt zu einem Laufsteg für die neueste Mode geworden? Noch vor der Dämmerung hatte ich das Ende des Geländes erreicht. Lediglich der Kauf eines wunderschönen Klappmessers tröstete mich über die neuerlichen Enttäuschungen hinweg. Ich hatte mich sofort in die filigranen Silberverzierungen am Griff des Messers verliebt und spürte dessen Gewicht bei jedem Schritt schwer in meiner linken Hosentasche. Obwohl der Verkäufer mir deutlich mit dem Preis entgegengekommen war, hatte es mich immer noch fast ein halbes Monatsgehalt gekostet. Aber das war es mir wert, so konnte ich doch noch eine positive Erinnerung aus diesem Jahr mitnehmen.
Gerade, als ich mich dem Ausgang zuwenden wollte, fiel mir ein schmuckloses, großes Zelt auf, das sich an die Mauer, die den Jahrmarkt umgab, quetschte, und das ich bisher noch nie bemerkt hatte. Interessiert ging ich darauf zu. Als ich nur noch wenige Schritte vom Eingang entfernt war, konnte ich ein unscheinbares Schild mit der Aufschrift Spiegelkabinett – Verlieren Sie sich in unendlichen Welten ausmachen. Ich grinste ob des Slogans – er war deutlich geistreicher als der schlechte Wortwitz Nicht nur für Geisterfahrer!, mit dem die Geisterbahn um Kunden warb. Daher wunderte es mich umso mehr, dass sich hier kein anderer Besucher herumtrieb.
Eine erste Erklärung dafür bot sich mir bereits, als ich das Kassenhäuschen im Eingangsbereich des Zeltes erreichte. Hinter der Theke schlief laut schnarchend ein untersetzter Mann. Speichelfäden rannen aus seinen Mundwinkeln, und wenn ich mir die Flecken auf seiner Jacke so ansah, schien ihn schon längere Zeit niemand mehr geweckt zu haben. Kurz geriet mein Entschluss, das Spiegelkabinett zu besuchen, ins Wanken. Aber mir war klar: Bis zum nächsten Jahr würde ich mich täglich fragen, ob ich nicht doch etwas verpasst hätte.
Entschlossen räusperte ich mich. Nichts geschah. Ratlos sah ich mich um, entdeckte eine Glocke neben dem Eingang und läutete sie. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen hallte durch die Luft und ließ meine Ohren klingeln. Während mein Gehör sich nur langsam wieder normalisierte, räkelte sich der Mann hinter der Kasse und schaute sich verwirrt um. Schließlich fiel sein Blick auf mich. Unverschämt lange musterten seine kalten Augen meinen Körper. Nicht, dass ich dies nicht gewohnt wäre, ab und an genoss ich sogar die bewundernden Blicke, aber diese Situation war … anders. Sein Blick war kalt, berechnend, ohne jegliches Interesse. Mit jedem Augenblick, der verstrich, fühlte ich mich unwohler.
Bereits seit einigen Sekunden verweilten die Augen des Mannes auf meiner Hüfte. Durch den Stoff der Jeans spüre ich das kalte Silber des Messergriffs auf meiner Haut.
»Was hast du da in der Tasche?«
Ich erschrak. Woher wusste er …? Ich war mir sicher, dass sich die Konturen des Messers nicht durch die Tasche abzeichneten.
»Das geht Sie gar nichts an!«, antwortete ich, trotz meines Unbehagens mit fester Stimme. Obwohl er so klein war, jagte mir der Mann Angst ein, was objektiv betrachtet lächerlich schien – schließlich hatte ich ein Messer. Verstohlen tastete ich mit meinen Fingern in der Tasche nach dem Schaft und … griff ins Leere.
»So eine Waffe ist doch nichts für junge Frauen.« Mit einem lauten Plopp sprang die eingeklappte Klinge aus dem Schaft.
Meine Nackenhaare stellten sich auf.
Ohne sich von der Stelle bewegt zu haben, hielt der Zwerg das Messer in der Hand und betrachtete es mit einem Stirnrunzeln. Zärtlich glitten seine Finger über die Intarsien am Griff. »Bezaubernd«, flüsterte er. »Und ziemlich wertvoll.«
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