Daniela Gregori · Rainer Metzger
CHRISTIAN LUDWIG
ATTERSEE
Die Biografie
Mit 577 vom Künstler ausgewählten Abbildungen 2., aktualisierte Auflage
Unseren Wiener Freunden
Wir danken für vielfältige Unterstützung: Angela Baillou, Heike Curtze, Andreas Deppe, Dieter Gottwald, Chico Klein, Rudolf Klingohr, Ursula Krinzinger, Monika Lichtenfeld, Horst Ludwig, Markus Lüpertz, Sigrid Nachbar, Walter Pichler, Gerhard Rühm, Hanni Rühm, Susi Saipt, Michaela Spiegel, Peter Weibel, Renate Winkler-Wilde sowie der Familie Saric. Besonders bedanken wir uns, sie wissen, warum, bei Martina Baumung-Hirsch, Ingried Brugger und Michaela Pappernigg. Unser spezieller Dank an Christian Ludwig Attersee .
2020
1940–1957
1957–1963
1963–1965
1965–1966
1966–1968
1968–1972
1972–1977
1977–1984
1984–1992
1992–2000
2000–2009
2009–2019
2020
Literatur
Personenregister + Bildnachweis
Vor der Villa Alber, ehemals Villa Leibenfrost. Gartenseite. Fotografie von Kurt-Michael Westermann
Das Polleross-Haus ist das älteste des Semmering. Wenn man den Kopf einzieht und durch die niedere Tür tritt, vorbei am Kellerzugang, den man bestenfalls gebückt durchmisst, in den Flur kommt und dann eine Kammer erreicht, die heute als Bad dient, dann sieht man den Balken mit dem Handwerkerzeichen und der Datierung: 1595 heißt es da, und man hätte es sich schon an den Maßen und den Proportionen der Keusche denken können, den dicken Mauern, der behäbigen Hingelagertheit und dem ausladenden Dach. Als Christian Ludwig Attersee zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Evelyn Oswald 1990 sein Anwesen am Semmering erwarb, war das Polleross-Haus, benannt nach den Bauern, die es über die Epochen bewirtschaftet hatten, eine Zutat. Natürlich war es um das Haupthaus gegangen, die anliegende Villa, die einst die „Pension Villa Alber“ war, wie es ein Schild an der Eingangstür zu verstehen gibt, angebracht gleich neben der Fassadenmalerei mit Blumendekor im allerspätesten Jugendstil, die von Alois Koller stammt, dem Vater der nachmaligen österreichischen Weltberühmtheit Dagmar Koller. Die Villa ist ein typisches Produkt der Jahrhundertwende: 1882 erbaut, 1898 von Franz Ritter von Neumann auf die heutige Gestalt hin erweitert, ein wunderbares Beispiel der Bauernhausmanier, die sich ihre Muster für die stadtnahe Sommerfrische in der Schweiz und in Vorarlberg besorgte. Attersee hat die Liegenschaft vorzüglich restaurieren lassen, und so erblickt man, kommt man die Straße vom Südbahnhotel herunter, ein Denkmal der Stilkunst des Fin de Siècle, eingebettet in einen Park, der mit seinen turmhohen Nadelbäumen seinerseits ein Monument der alpinen Vegetation abgibt.
Vor dem Polleross-Haus. Fotografie von Kurt-Michael Westermann
Treppenhaus der Villa Alber. Fotografie von Kurt-Michael Westermann
Biografien pflegen mit etwas Bedeutendem in ihr Thema einzusteigen. Wenn schon das individuelle Leben der Banalität milliardenfachen Vorkommens unterliegt, so ist jedenfalls die Beschreibung eines Lebens, nimmt man sie in Angriff, auf das Herausragende, das Singuläre oder das Mustergültige gepolt. Nur unter dieser Prämisse wird die Biografie als Lebenslauf zur Biografie als einem literarischen Genre. Was wir hier vorlegen, ist ein Versuch in eben diesem literarischen Genre, es ist eine Biografie, keine Monografie. Und sie versucht, die Jahre und Jahrzehnte vor Augen zu stellen, in denen Attersee das wurde, was er heute darstellt: einen der bedeutendsten Künstler der Gegenwart in Österreich, aber auch eine öffentliche Gestalt von hoher Prominenz, starkem Einfluss und großer Verbreitung. Natürlich ist das eine Prädikat vom anderen nicht zu trennen, ist doch gerade bei Attersee die Einheit von Kunst und Leben, die alte Obsession der Avantgarde, angestrebt und exemplarisch vollzogen. Die Biografie, die das Leben, und die Monografie, die das Werk in den Mittelpunkt stellt, treffen sich vielfältig. In einer Moderne der Massenkultur sind die Bilder eingepasst in den Kreislauf von Verwertung und Wiederverwertung, und zwar im umfassenden Sinn dessen, was ein Bild sein kann: ein Gemälde und ein Image, ein Porträt und eine Vorstellung, eine bewusste Setzung und ein Missverständnis. Christian Ludwig Attersees öffentliche Existenz bewegt sich in der Interferenzzone all dessen. Dass er dies weiß, darüber verfügt und mit den Bildern entsprechend virtuos jongliert, zeigt ihn nicht unbedingt als Pop-Künstler – er selbst lehnt eine solche Nähe mit dem Hinweis ab, die Kollegen von der Pop-Art würden nur finden, er hingegen würde erfinden. Doch es zeigt ihn auf jeden Fall als Zeitgenossen, als mustergültigen Zeitzeugen des Pop. Was den Umgang mit Öffentlichkeit angeht und wie sie auf die Professionalität des Künstlers rückbeziehbar ist: Bei diesem Vexierspiel macht Attersee in seinem Land Österreich keiner etwas vor.
Das Treppenhaus der Attersee-Villa am Semmering steht unter Denkmalschutz. Es ist vollständig erhalten, mit seiner Stiege und den dreißig steilen Stufen in ihrer großzügigen, um zwei Ecken gezogenen Erstreckung, zwischen deren Wangen als Lampe ein sogenanntes Lüsterweibchen hängt, ein Paradestück des Historismus in seiner Anmutung des Gotischen. Eine Art Balkon markiert die vierte Seite des Treppenhauses, von hier aus ergibt sich der beste Blick auf das zentrale Werk des Traktes, gemalt vom Meister selbst: ein Porträt von Ingried Brugger, der jetzigen Hausherrin, samt Jules, dem tibetanischen Tempelhund. Gemälde gibt es zuhauf in diesem Prachtbau, wenige indes stammen von Attersee. Gehängt sind sie in erstaunlich strenger Systematik: Im Foyer wird man stilecht empfangen von Gustostücken der Jahrhundertwende, von einem Rückenakt des belgischen Symbolisten Willy Schlobach und einem 1899 ins Pastell gebannten Doppelporträt von der Hand des Wiener Gesellschaftsmalers Franz Hohenberger, das zwei Schwestern aus der Dynastie des Sektherstellers Kattus zeigt. In der Küche prangen Küchenstillleben, eines der Gästezimmer ist allerliebst ausgestattet mit Frauenakten sowie, als ließe sich darin eine Logik greifen, einem Leopardenfell; eine andere der im zweiten Stock gelegenen Unterkünfte ist tapeziert mit Hundebildern.
„Ingried und Jules“. 2003/06. Acryl und Lack auf grundierter Leinwand. 187 x 187 cm
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