Einband zu H. C. Artmanns „med ana schwoazzn dintn. gedichta aus bradnsee“. Salzburg: Otto Müller Verlag 1958
Das „1. literarische cabaret“ der Wiener Gruppe mit Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer. Wien, Künstlervereinigung „alte welt“, Windmühlgasse. 1958. Fotografie von Franz Hubmann
In das Jahr 1958 fällt die erstmalige Zuerkennung des einschlägigen Etiketts, als Dorothea Zeemann im „Neuen Kurier“ vom 23. Juni von der „Wiener Dichtergruppe“ berichtet. Im Dezember findet das „1. literarische cabaret“ statt, in einem Theatersaal in der Wiener Windmühlgasse, bei einem „alle erwartungen übertreffenden andrang“ und einem dezidierten „nachträglichen echo“, wie Rühm sich erinnert (ebd., 27). Im April des folgenden Jahres fand man sich im Porrhaus am Naschmarkt zur zweiten Veranstaltung ein, diesmal reagierte auch die Presse, „mit der typischen mischung von entrüstung und sensationsgier“, schreibt Rühm. Es waren die Jahre, da die Kunst ihre performative Wende nahm und das Werk, das vordem als in sich ruhend, autonom und vollendet gedacht war, dynamische Züge eines Ereignisses erhielt. Handlung, Ablauf, Auftritt, Vortrag waren die neuen Medien, und was eine Gattungsästhetik streng in Dichtung, Bildnerei, Musik getrennt hatte, wurde theatralisch und fügte sich zusammen zu einer gewichtigen Vorstellung von Totalität. Verwandte Tendenzen gab es weltweit, im Happening Allan Kaprows in den USA etwa oder bei Dieter Roth in der Schweiz, später ein zentraler Weggefährte Attersees. In Österreich jedenfalls bestellte die Wiener Gruppe das neue Terrain, als Proponenten eines „totalen theaters“ und der entsprechenden öffentlichen Ablehnung.
Wie immer, wenn es um Expeditionen ins Unbekannte geht, hatte es mit der Pioniertruppe bald ein Ende. Am 10. April 1964 brachte man die bereits 1958 gemeinsam verfasste „kinderoper“ zur Uraufführung, es war im „Chattanooga“, einem Lokal am Graben, zu dessen Eröffnung der Betreiber Uzzi Förster auf die Spektakeleffekte von Skandalen setzte und das Radikalste der Wiener Szene einlud, sich zu exponieren. Es wurde die „abschiedsvorstellung“, formuliert Rühm: „achleitner wandte sich wieder ganz der architekturtheorie zu, bayer zog sich nach schloss hagenberg in niederösterreich zurück, um seinen roman (unvollendet geblieben und ,der sechste sinn‘ betitelt, Anm. d. Verf.) fertig zu schreiben, wiener hatte einen job bei ‚olivetti‘ und arbeitete an der ‚verbesserung von mitteleuropa‘, ich übersiedelte zwei tage nach der aufführung nach berlin“ (ebd., 29). Auf diese Übersiedelung und ihre Folgen für die Biografie eines aufstrebenden Künstlers wird zurückzukommen sein. Artmann übrigens lebte zu der Zeit schon im schwedischen Malmö. Er war seiner seltsamen Reputation als Wiener Mundartdichter entflohen.
Schon am 14. April 1964 kommt es im „Chattanooga“ zum Auftritt einer illustren neuen Tendenz, die die Wiener Gruppe an Direktheit und Streben nach Unmittelbarkeit, an Skandalträchtigkeit und Kriminalisierung weit in den Schatten stellen wird. Die Literaten und die jungen Radikalen, die im Jahr 1969 von Peter Weibel auf den Begriff „Wiener Aktionisten“ gebracht werden, haben trotz der räumlichen und zeitlichen Koinzidenz miteinander nichts zu tun, einzig Oswald Wiener nimmt von ihnen Notiz. Er ist mit Otto Muehl befreundet, und eben Muehl setzt im „Chattanooga“ seine „Materialaktion Nr. 6“ in Szene. „Ein weibliches Modell“, stellt es Hilde Spiel, die Grande Dame der Kulturberichterstattung aus Österreich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 30. April 1964 leicht konsterniert dar, „dessen übliche Entblößung hier durch einen Bikini angedeutet ist, wird nach und nach mit unappetitlichem Abfall aller Art beworfen, in durchlöcherte Nylonsäcke gehüllt, mit roten Gartenschläuchen verschnürt und zuletzt mit Brettern umgeben“ (zit. n. Loers/Schwarz 1988, 264). So gingen sie zu Werke, die Aktionisten, und was hier reportiert wird, gehört noch zu den harmloseren Manifestationen, zum Frühwerk gewissermaßen. 1958 hatten Rühm und Bayer ein Stück Lyrik erdacht, das mit den Zeilen „scheissen und brunzen / sind kunsten“ einsetzt – was in den Sechzigern bei Muehl und seinen Mitstreitern, zu denen man speziell Günter Brus, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler rechnen kann, zu gewahren ist, wäre die ganz buchstäbliche Umsetzung dieses Diktums in eine künstlerische Darbietung.
Das „2. literarische cabaret“ der Wiener Gruppe. In der Nummer „2 welten" zertrümmern Friedrich Achleitner und Gerhard Rühm ein Klavier auf der Bühne im Wiener Porrhaus. 1959. Fotografie von Franz Hubmann
Szenenbild aus der „kinderoper“ mit Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer. 1964. Fotografie von Franz Hubmann
Der Wiener Aktionismus ist eine perfekte Demonstration in Selbstüberbietung, bei der sich das vollkommene Unverständnis der Öffentlichkeit und die Permissivität, die in den Sechzigern mit jedem Jahr zunimmt, in einem Mechanismus der Radikalisierung gegenseitig, man könnte sagen, anfeuern. Die seriöserweise ambitionierten Ideen des Aktionismus – die Frage nach dem Dionysischen, nach Exzess und Verausgabung, etwa bei Nitsch, oder die vom Expressionismus eines Oskar Kokoschka abgeleitete Herausstellung von Fleisch und Exkrementen bei Muehl oder Brus – stoßen auf die strikteste Ablehnung bei allen, die nicht selbst zum Zirkel gehören. Die einmal erlebte Ablehnung wird in bester avantgardistischer Manier zur Raison d’Être und zum Motor der folgenden Auftritte, die diese Erfahrung des Scheiterns bereits eingebaut haben und sie als Prämisse nehmen für die Selffulfilling Prophecy des nächsten Skandals. Bis heute ist Attersee mit Nitsch und Brus sehr gut befreundet, er hat diverse Gemeinschaftsarbeiten mit ihnen ins Werk gesetzt, er war und ist Bestandteil dieser aufsehenerregendsten aller künstlerischen Bewegungen nicht nur Wiens, sondern man darf sagen, weltweit. Mit einem eigenen Auftritt beteiligt war Attersee – mit einer Ausnahme, auf die wir selbstverständlich zurückkommen – an den Darbietungen nicht.
Katalogumschlag zu Rudolf Schwarzkoglers Ausstellung in der Galerie nächst St. Stephan in Wien. 1970
Friedl Muehl, Hermann Nitsch, Otto Muehl, Eva Nitsch, Ingrid und Oswald Wiener (mit dem Kreuz), Kurt Kren, Anni und Günter Brus. 1966
Renovierungsarbeiten im ersten Atelier Attersees im 9. Wiener Bezirk. Stehend Horst Ludwig. 1964
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