Klaus Dörner - Bürger und Irre

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Wie geht die bürgerliche Gesellschaft mit denen um, die, gemessen an ihrem Begriff der Vernunft, unvernünftig sind? Klaus Dörner zeigt die Tatsache und die Gründe, warum die bürgerlichen Gesellschaften in England, Frankreich und Deutschland erst im Zusammenhang mit der industriell-kapitalistischen Revolution ihre psychisch Kranken als «die Irren» wahrnahmen: eine reich dokumentierte Geschichte der Psychiatire-Geschichtsschreibung, mit kritischem Überblick der klassischen Werke und ihrer Tendenz. «Bürger und Irre» war seit seinem ersten Erscheinen 1969 bahnbrechend bei der Entstehung der Psychiatriebewegung in der Bundesrepublik und in Italien. Die zahlreichen Einzeluntersuchungen, die in der Folge entstanden, die Übersetzungen in alle europäischen Sprachen zeigen, dass die Wirkung dieses Werkes ungebrochen ist. «Solange psychisch Kranke bestenfalls nur den halben Pflegesatz im Vergleich zu körperlich Kranken zugesprochen bekommen, dauert die ungleiche Auseinandersetzung zwischen 'Bürgern' und 'armen Irren' an.» Klaus Dörner

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Klaus Dörner

Bürger und Irre

Zur Sozialgeschichte und

Wissenschaftssoziologie

der Psychiatrie

Mit einem Vorwort

zur dritten Auflage 1995

von Klaus Dörner

CEP Europäische Verlagsanstalt

© der ebook-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH

Copyright Print-Ausgabe:

© ergänzte Neuauflage 1995 by Europäische Verlagsanstalt, Hamburg

Erstausgabe Frankfurt am Main, 1969

Motiv: Akute Manie, aus den »Maladies Mentales«

von J. E. D. Esquirol (1838)

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung

(auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem

Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen

Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung)

vorbehalten.

ISBN 978-3-86393-547-4

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage Vorwort zur dritten Auflage Als ich 1968 die erste Fassung von »Bürger und Irre« bei der philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation einreichte, wurde sie nur mit knapper Not angenommen: Sie war zu wenig marxistisch und zu wenig ökonomisch. Als die Arbeit 1969 als Buch erschien, gab es in psychiatrischen Fachzeitschriften kaum eine Rezension: Sie war zu marxistisch und zu ökonomisch. Vielleicht ist die Situierung in diesem Spannungsfeld – wie auch in vielen anderen – eine Erklärung für den Dauererfolg des Buches, der den Verlag nun – nach mehr als 25 Jahren – veranlaßt, es in einer neuen Auflage erscheinen zu lassen. Der andere Grund dafür dürfte darin liegen, daß mein Versuch, die Entstehung der Psychiatrie als Institution und Wissenschaft prismatisch von allen denkbaren Seiten her zu beleuchten, sich als ein Dokument der Geburt der Moderne herausgestellt hat. Das konnte man damals noch nicht wissen, bestenfalls ahnen. Auf diese Weise scheinen fast alle Wissenschaften von »Bürger und Irre« profititiert zu haben. Die Reihenfoge dieses Teils der Wirkgeschichte des Buches ist aufschlußreich. Die ersten Rezensionen erschienen bei den Romanisten, Germanisten und Anglisten. Es folgten die Historiker, Philosophen, Soziologen, Politikwissenschaftler, Ökonomen, Pädagogen, Psychologen und Naturwissenschaftler. Danach nahmen auch Allgemeinmediziner und Medizinhistoriker Notiz von dem Buch, nur nicht die psychiatrischen Fachzeitschriften. Dabei haben viele psychiatrisch Tätige das Buch von Anfang an mit Begeisterung gelesen. Aber das waren jüngere Leute, die aus der antiautoritären Bewegung heraus, anfangs gegen die eigenen Standesvertretungen, sich für die Befreiung der psychisch Kranken aus den Anstalten einsetzten, die psychiatrische Reformbewegung bildeten, daher noch keine eigenen Publikationsorgane hatten. Heute gilt das Buch natürlich auch in der Psychiatrie als »Klassiker«. Das Buch hat also ein Alter erreicht, in dem es selbst schon institutionelles Gepräge hat. Vielleicht ist das Bild des »Bergwerks« besser, in das getrost Wissenschaftler aller Art einfahren können, weil sie etwas für die Selbstaufklärung ihrer Wissenschaft Brauchbares finden werden, wobei sie je nach dem Jahrzehnt ihres Einfahrens etwas anderes als brauchbar wahrnehmen werden. Im folgenden werde ich drei solcher Fundstücke, also drei Facetten der Wirkgeschichte von »Bürger und Irre«, breiter darstellen, weil sie mir für Gegenwart und Zukunft besonders wichtig sind. Es handelt sich einmal um das Verhältnis von Romantik und Aufklärung, zum anderen um die psychiatrische Reformbewegung nach 1945 und schließlich um die Integration der NS-Psychiatrie in die Geschichte der Moderne.

Vorwort zur zweiten Auflage

I. EINFÜHRUNG

1. Absicht der Untersuchung: Selbstaufklärung der Psychiatrie

2. Zum Vorverständnis der Beziehung zwischen Psychiatrie und Soziologie

3. Methoden der Untersuchung

4. Historisches Vorfeld: die Ausgrenzung der Unvernunft

II. GROSSBRITANNIEN

1. Ausgrenzung der Unvernunft der Öffentlichkeit

a) Begriffe der politischen Öffentlichkeit

b) Hysterie und Identität des Bürgers

c) Ausgriffe auf die Unvernunft

2. Industrielle Revolution, Romantik, psychiatrisches Paradigma

a) Sozioökonomische Konstellation

b) William Battie

c) Funktionalisierung der Hysterie

3. Reformbewegung und Dialektik des Zwangs

a) Krise – die liberale und die konservative Antwort

b) Das »Retreat« oder die Verinnerlichung des Zwangs

c) Versöhnung im System oder der unsichtbare Zwang

III. FRANKREICH

1. Theoretische und praktische Vorarbeit zur Aufhebung des Ancien Régime

a) Vitalisten und Aufklärer

b) Rousseau und Mesmer

c) Scheitern der Physiokraten-Reformen

2. Revolution und Emanzipation der Irren

a) Arme und Irre in der Revolution; Medizinreform

b) Die Medizin der Idéologues

c) Pinel: historisches Paradigma und Befreiung zur administrierten Moral

3. Psychiatrisch-soziologischer Positivismus

a) Restauration und psychiatrische Reform

b) Somatismus und Fortschritt

IV. DEUTSCHLAND

1. Merkantilismus und Bildungsbürgertum

a) Peuplierungspolitik und Differenzierung der Ausgegrenzten

b) Von der Aufklärung z um »Sturm und Drang«

c) Kant und die »Erfahrungsselenkunde«

2. Revolution von oben und das verhinderte psychiatrische Paradigma

a) Medizinischer und romantischer Anstoß

b) Preußens Reform und Frankreichs Einfluß

3. Von der Restauration zum bürgerlich-naturwissenschaftlichen Liberalismus

a) Naturphilosophische und theologische Psychiatrie

b) Vormärz: »Somatiker« vs. »Psychiker«

c) Revolution, Medizinalreform und psychiatrisches Paradigma (Griesinger)

SCHLUSSBEMERKUNG

V. ANHANG

Kriterien der Psychiatrie-Geschichtsschreibung

Literaturverzeichnis

Vorwort zur dritten Auflage

Als ich 1968 die erste Fassung von »Bürger und Irre« bei der philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation einreichte, wurde sie nur mit knapper Not angenommen: Sie war zu wenig marxistisch und zu wenig ökonomisch. Als die Arbeit 1969 als Buch erschien, gab es in psychiatrischen Fachzeitschriften kaum eine Rezension: Sie war zu marxistisch und zu ökonomisch. Vielleicht ist die Situierung in diesem Spannungsfeld – wie auch in vielen anderen – eine Erklärung für den Dauererfolg des Buches, der den Verlag nun – nach mehr als 25 Jahren – veranlaßt, es in einer neuen Auflage erscheinen zu lassen. Der andere Grund dafür dürfte darin liegen, daß mein Versuch, die Entstehung der Psychiatrie als Institution und Wissenschaft prismatisch von allen denkbaren Seiten her zu beleuchten, sich als ein Dokument der Geburt der Moderne herausgestellt hat. Das konnte man damals noch nicht wissen, bestenfalls ahnen.

Auf diese Weise scheinen fast alle Wissenschaften von »Bürger und Irre« profititiert zu haben. Die Reihenfoge dieses Teils der Wirkgeschichte des Buches ist aufschlußreich. Die ersten Rezensionen erschienen bei den Romanisten, Germanisten und Anglisten. Es folgten die Historiker, Philosophen, Soziologen, Politikwissenschaftler, Ökonomen, Pädagogen, Psychologen und Naturwissenschaftler. Danach nahmen auch Allgemeinmediziner und Medizinhistoriker Notiz von dem Buch, nur nicht die psychiatrischen Fachzeitschriften. Dabei haben viele psychiatrisch Tätige das Buch von Anfang an mit Begeisterung gelesen. Aber das waren jüngere Leute, die aus der antiautoritären Bewegung heraus, anfangs gegen die eigenen Standesvertretungen, sich für die Befreiung der psychisch Kranken aus den Anstalten einsetzten, die psychiatrische Reformbewegung bildeten, daher noch keine eigenen Publikationsorgane hatten. Heute gilt das Buch natürlich auch in der Psychiatrie als »Klassiker«.

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