„Du weißt schon eine Menge über uns Zerrocks“, sagte er lobend zu Akinna, „aber doch bei Weitem nicht alles. Wenn du mich am Leben lässt, könnte ich dir sicher noch das eine oder andere Nützliche verraten.“ Erwartungsvoll sah er sie an. Doch sie zögerte weiterhin.
„Was willst du denn noch hören, um dich endlich milde stimmen zu lassen?“, fuhr Dantra sie scharf an.
Zu seiner Verwunderung drehte sie ihren Kopf zu ihm und sah ihm in die Augen, allerdings ohne etwas zu sagen. Dabei drehte sich ihr Oberkörper so weit mit, dass sie nun knapp an Inius vorbeizielte. Mit einem schnellen Schritt hätte er sie vielleicht entwaffnen können, aber er tat es nicht.
„Vertrauen muss man sich verdienen“, sagte Akinna schließlich. „Worte gehen einem leicht über die Lippen. Ob sie nun der Wahrheit entsprechen oder nicht. Taten hingegen verraten einem mehr über geplante Absichten. Wenn er“, mit einer kurzen Kopfbewegung deutete sie auf Inius, ohne ihn anzusehen, „uns schaden wollte, hätte er diese gerade gebotene Chance, mich zu überwältigen, nicht verstreichen lassen. Vor allem, weil er nicht wissen konnte, dass dies eine Prüfung war. Es hätte genauso gut sein können, dass ich dir nur mein Bedauern darüber ausdrücken wollte, dass ich ihn töten müsse. Dennoch tat er es nicht.“ Mit dem letzten Satz schaute Akinna Inius wieder bohrend an, verharrte kurz und senkte dann den Pfeil. „Das bedeutet aber nicht, dass ich dir ab jetzt vorbehaltlos vertraue, verstanden?“
Inius nickte. „Verstanden.“
Dantra atmete erleichtert auf. „Und jetzt?“, fragte er in die Runde. „Wer weiß, ob nicht schon der nächste Trupp hierher unterwegs ist.“
„Das denke ich nicht“, entgegnete ihm Inius. „Aber wir sollten zusehen, dass wir die Leichen verschwinden lassen.“
„Warum? Das kostet nur Zeit und die haben wir nicht. Wir müssen zusehen, dass wir weiterkommen.“ Akinnas Einwand klang mehr nach einem Befehl und weniger nach einem Argument für eine Diskussion.
„Jeder Suchtrupp bekommt ein bestimmtes Gebiet zum Kontrollieren zugeteilt. Daher wird hier so schnell kein zweiter Trupp auftauchen“, erklärte Inius Dantra und wandte sich dann Akinnas Einwand zu. „Jedoch gibt es einen Drachen, der aus extremer Höhe bestimmte Menschen, ob tot oder verletzt, finden kann. Dieser überfliegt regelmäßig das gesamte Suchgebiet. Wenn wir die Leichen also verschwinden lassen, haben wir gute Chancen, nochmals hier übernachten zu können. Außer natürlich du kennst ein Versteck, das man in kürzester Zeit erreichen kann, denn es dauert nicht mehr lang und die Dämmerung bricht herein.“
„Aber gerade die knappe Zeit lässt es nicht zu, dass wir vier Gräber ausheben“, entgegnete ihm Akinna vorwurfsvoll.
„Ich weiß, dass das knapp wird, aber ich denke, eine andere Möglichkeit, als es zu versuchen, bleibt uns nicht.“
„Ich habe vielleicht eine Idee“, warf Dantra nachdenklich ein. Akinna und Inius sahen ihn überrascht an, was ihn ein wenig ärgerte, denn sie verliehen ihm so das Gefühl, als wäre er ein kleines Kind, das sie unter keinen Umständen aus dieser prekären Lage zu befreien vermochte. „Wir könnten sie dort hineinwerfen“, sagte Dantra schließlich und deutete auf die schwarze Waldwand. „Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich denke, die Kreaturen, die dort drin leben, nehmen sich unseres Problems an.“
„Woher weißt du, was für Kreaturen in dem schwarzen Baumwald leben?“, fragte Inius skeptisch.
„Ich war schon einmal darin und habe schmerzliche Erfahrungen mit ihnen gemacht.“
„Du warst da drin und bist wieder herausgekommen?“ Der Ton, in dem Inius die Frage stellte, erinnerte Dantra stark Akinna, wenn sie ihm wieder einmal nicht glaubte.
Diese jedoch schlug nun, zu seiner Verwunderung, einen ganz anderen an. „Willst du ihm unterstellen, dass er lügt?“, fauchte sie Inius an.
„Nein, natürlich nicht“, versuchte er, sie zu beruhigen. „Ich habe nur noch nie davon gehört, dass jemand dort reinging und heil wieder herauskam. Aber dennoch steht es mir natürlich nicht zu, an seinem Wort zu zweifeln.“ Und an Dantra gewandt sagte er: „Entschuldige, bitte.“
„Schon gut“, meinte Dantra und winkte beschwichtigend ab. „Es ist ja auch schwer zu glauben und ohne fremde Hilfe wäre ich sicher ebenfalls gestorben. Aber was meint ihr zu meinem Vorschlag? Sollen wir es versuchen?“
„Wenn es funktioniert, erhöht es unsere Chancen, im Verborgenen zu bleiben, ganz erheblich“, beurteilte Akinna seinen Einfall. „Also lasst es uns ausprobieren.“
Inius nahm den ihm am nächsten liegenden toten Zerrock bei den Armen, während sich Dantra die Beine griff. Sie schleppten den schweren, leblosen Körper zum schwarzen Baumwald und warfen ihn hinein, wobei sie sehr darauf bedacht waren, nicht selbst in den dunklen Schatten zu geraten. Sie spähten ins Trübe, wo sie allerdings nur noch schemenhaft die Leiche des Zerrocks erkennen konnten.
Doch das erhoffte Resultat blieb aus. Nichts tat sich. Nicht einen kleinen schwarzen Vogel schien es zu kümmern, dass sie den Mann dort hineingeworfen hatten. Nichts passierte, was darauf hindeutete, dass der Leichnam in Kürze verschwinden würde.
„Ich befürchte, sie fressen nur lebende Menschen“, sagte Dantra enttäuscht zu Akinna, als sie zurückkamen.
„Aber vielleicht haben wir Glück und der Drache kann sie trotzdem nicht finden, wenn sie dort drin liegen“, überlegte Akinna laut.
„Mag sein“, pflichtete Inius ihr bei. „Aber er wittert in jedem Fall das Blut hier.“ Er deutete auf die rot getränkte Erde, auf der der Anführer des Suchtrupps mit seinem Gesicht lag, aus dessen durchschnittener Kehle immer noch Blut quoll.
„Ich kümmere mich darum“, sagte Akinna, „nehmt erst die anderen. Sie haben aus ihren Pfeilwunden fast kein Blut verloren. Und das bisschen, was herauskam, hat genau wie bei dem, den ihr gerade weggebracht habt, die Kleidung aufgesaugt.“
Dantra und Inius hievten den nächsten Mann hoch und trugen auch ihn zum schwarzen Baumwald hinüber. Bevor sie ihn hineinwarfen, legten sie ihn, um Kräfte zu sammeln, erst noch einmal ab. Während Inius unter leisem Stöhnen seinen Rücken durchdrückte, versuchte Dantra, im Schatten etwas zu erkennen.
„Sind wir nicht an derselben Stelle, an der wir gerade den anderen entsorgt haben?“
„Exakt an derselben Stelle“, bestätigte ihm Inius.
„Nun, dann hat es wohl doch funktioniert.“ Dantras Erleichterung war nicht zu überhören.
„Stimmt“, pflichtete ihm Inius bei, nachdem auch er angestrengt das Dunkel mit seinen Augen abgesucht hatte und nichts mehr von der Leiche zu sehen war.
Sie warfen den zweiten Mann hinein und warteten erneut ab. Aber wieder passierte nichts.
„Ziemlich scheu, die Viecher, was?“, stellte Inius fest.
„Nun, den Eindruck hätte ich auch gerne gehabt, als ich seinerzeit dort drin war. Aber bei mir hatten sie nicht so viele Hemmungen, sich zu zeigen. Ganz im Gegenteil.“
„Es klappt doch“, verkündete Dantra Akinna stolz. „Die erste Leiche ist bereits verschwunden.“
„Das macht deine gute Idee zu einer sehr guten Idee“, lobte sie ihn. Sie tat das zwar nur beiläufig, da sie mit dem Verbinden der tödlichen Verletzung des Zerrocks beschäftigt war, aber dennoch freute es Dantra außerordentlich und machte ihn stolz. Sein daraus resultierendes breites Grinsen in Richtung Inius, der diesem mit einem spöttischen „Na, hast du von Mutti ein Lob bekommen?“-Blick begegnete, war ihm genauso außerordentlich peinlich. Und das verhasste Gefühl der aufsteigenden Schamesröte ließ den gerade erlebten Triumph zusammenschrumpfen.
Mit gesenktem Kopf schlurfte er Inius hinterher bis zu der Stelle, wo Akinnas Pfeil dem Beobachter den Tod gebracht hatte. Von hier aus bis zum schwarzen Baumwald war es zwar auch nicht viel weiter zu laufen, jedoch wurde sich Dantra seiner schwindenden Kräfte mit jedem Schritt, den er die Last bewegen musste, mehr gewahr. Am Ziel legten sie den Zerrock wieder zuerst ab und dieses Mal musste auch Dantra seinen schmerzenden Rücken durchdrücken und seinen Lungenrufen nach mehr Luft nachkommen.
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