„Ich bin mir nicht nur dessen bewusst, ich bin auch davon überzeugt, dass es hier keine falschen Ohren gibt, die das hören könnten. Oder irre ich mich etwa damit?“
Wieder war es Inius’ Gesichtsausdruck, der die ehrlichste Antwort gab: „Selbst wenn ich kein Zerrock mehr bin und somit keinen Dienstgrad mehr habe, dem man den gebührenden Respekt entgegenzubringen hat, möchte ich mir dennoch nicht von einem Jungen, der nicht einmal halb so alt ist wie ich, dumme Gegenfragen anhören müssen.“ Sein Mund aber hielt sich zurück und äußerte stattdessen nur beschwichtigend: „Du hast natürlich recht. Hier gibt es nur Ohren von Gleichgesinnten.“
Nach einer kurzen Frustpause fing er sich wieder. Mit seinem in sich gekehrten, leicht überheblichen Blick beantwortete er Dantras eigentliche Frage. „Er kann sehr viel mehr als ein Spürhund. Er kann Hunderten von Blutspuren auf einmal folgen, und das aus einer Höhe, in der er von unten kaum zu erkennen ist.“
„Also, sehe ich das richtig? Wenn du blutest, wird er dich in kürzester Zeit finden?“, fragte Akinna.
„Das ist korrekt“, bestätigte er ihr. „Aber ich müsste schon ziemlich stark bluten. So stark, dass ich die Blutung nicht stoppen kann, um die Wunde schnellstmöglich fest zu verbinden.“
„Aber wenn er zufällig in der Nähe wäre, würde dir nicht einmal die Zeit zum Verbinden bleiben? Er würde dich sofort aufspüren?“, hakte Akinna nach.
„Das ist ebenfalls richtig.“ Die von Akinna aufgeführte Tatsache, wie schnell seine Flucht beendet sein konnte, ließ ihn nachdenklich werden.
„Genug geredet“, durchbrach Akinna plötzlich die aufgekommene Ruhe wie ein Blitz die Dunkelheit. „Es ist Zeit zum Schlafen.“ Anstatt sich jedoch unter ihren Umhang zurückzuziehen, begab sie sich in die gleiche Sitzhaltung wie schon in der Nacht zuvor.
„Willst du wieder wach bleiben?“, fragte Dantra sie.
Sie antwortete ihm mit einem misstrauischen Blick zu Inius und einem kurz angebundenen „Ja“.
Die Morgendämmerung hatte die Nacht noch nicht ganz verdrängt, als Akinna Dantra und Inius weckte. „Macht euch abmarschbereit, wir haben einen langen Weg vor uns“, befahl sie barsch.
„Bei dir hört sich das so an, als wäre es etwas Besonderes. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir haben jeden verdammten Morgen einen langen Weg vor uns“, brummelte Dantra unter seiner Decke hervor.
Als er kurz darauf aus dem Baum kroch, hatte er das Gefühl zu baden, ohne im Wasser zu sein. Die Welt um ihn herum schien sich hinter einer dicken, nassen Wand verstecken zu wollen. Der Nebel war so dicht, dass er kaum zwei Schritte weit sehen konnte. „Wenn wir jetzt losgehen, werden wir uns verlaufen“, stellte er fest.
Inius stimmte ihm mit einem Kopfnicken und einem „Da hast du recht“ zu.
„Wenn wir jetzt losgehen“, widersprach ihnen Akinna, „haben wir gute Chancen, nicht von deinen Freunden“, sie sah Inius verächtlich an, „erwischt zu werden. Und wenn ihr bei mir bleibt, werdet ihr euch auch nicht verlaufen. Noch Fragen?“
„Ja, wohin gehen wir?“, wollte Inius wissen.
„Wir beide“, sie zeigte erst auf Dantra und dann auf sich selbst, „suchen etwas, von dem wir zu wissen glauben, wo es zu finden ist. Und da gehen wir jetzt hin.“
„Das hat meine Frage zwar nicht beantwortet, aber ich liege wohl mit der Vermutung richtig, dass das alles ist, was ich als Antwort von euch zu erwarten habe, oder?“ Er sah die beiden an und kommentierte ihr Schweigen mit einem „Das habe ich mir gedacht“.
Sie marschierten hintereinander her, wobei Akinna ihren kleinen Trupp anführte. In die Mitte hatte sie Inius zitiert und den Schluss bildete Dantra, dessen Gedanken sich nach Akinnas Erklärung mit ihrem heutigen Vorhaben, den schwarzen Baumwald zu überwinden, beschäftigten. Er war natürlich nicht gewillt, noch einmal dort hineinzugehen. Aber was, wenn das Versteck hinter der Schattengrenze lag? Sie mussten den Dolch finden, koste es, was es wolle. Dies war unabdingbar für die Erfüllung ihrer Mission. Ein unangenehmes Gefühl gesellte sich zu seinem Hunger und schaffte es sogar, diesen vollständig zu verdrängen. Er hatte eine Art Vorahnung, dass dieser Tag alles verändern würde, dass etwas Furchtbares passieren würde und dann nichts mehr so wäre wie vorher. Seine eigenen Gedanken machten ihm Angst. Und so versuchte er, diese unheilvollen Eingebungen beiseitezuschieben, was ihm jedoch nur spärlich gelang.
Sie waren schon einige Zeit unterwegs, als der Nebel anfing sich aufzulösen. Erst jetzt bemerkte Dantra, dass sie sich entlang der schwarzen Baumwaldgrenze bewegten, die im Culter entlanglief. Kurz darauf erreichten sie die Ruinenstadt Astivo. Die meisten der Gebäudereste waren von Moos und Gräsern überwuchert. Teilweise wuchsen ganze Bäume aus den fehlenden Dächern heraus. Da es hier seit vielen Jahren keine Menschen mehr gab, hatte die Natur die Oberhand gewonnen und die Reste einstigen Lebens mit ihrer bunten Vielfalt überzogen. Der Anblick zauberte Akinna ein Lächeln aufs Gesicht.
„Ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass dir das gefällt“, sagte Dantra zu ihr und ließ einen tadelnden Unterton hören.
„Es ist ja nicht so, als wäre mir das Leid, das den Bewohnern einst widerfahren ist, egal. Aber sieh doch nur dieses Beispiel für die unbändige Kraft der Natur! Das ist doch faszinierend oder etwa nicht?“
Einen gewissen Eindruck hatte der Anblick auch bei Dantra hinterlassen. Dennoch ließ er ihre Frage unbeantwortet. Denn die, die gerade in ihm aufkeimte, war wesentlich wichtiger. „Wie sollen wir denn hier das richtige Gebäude finden?“
Sie gingen, balancierten oder kletterten über die Zeugnisse vergangener Zeiten, indem sie nach dem wenigen, was sie wussten, Ausschau hielten. Ein einst großes, massiv gebautes Haus mit einem kleinen Turm an der Lavaseite war ihr einziger Anhaltspunkt. Sie durchstreiften die ehemaligen Gassen des Ortes, wobei sie an einigen Stellen stehen blieben, um sich mit viel Fantasie die vor ihnen liegende Ruine als Ganzes vorzustellen. Doch fündig wurden sie nicht.
Es dauerte nicht lange und sie standen vor dem schwarzen Baumwald, der sich einmal quer durch den ganzen Ort zog. Das groteske Bild, das sich ihnen bot, verdeutlichte den Schrecken, der vom schwarzen Baumwald ausging. Es schien, als hätte er sich einfach, ungeachtet der zerstörten Häuser, den schnellsten Weg von Culter nach Lava gesucht. Einige der zerfallenen Häuser standen zum Teil im Wald und zum Teil davor. Wenn man durch einige der noch stehenden Türrahmen blickte, bekam man den Eindruck, als hätte jemand das Licht in der Mitte des Raumes gelöscht. Wenn der Wald nicht ein sicherer Weg in den Tod wäre, dann wäre dieser Anblick äußerst spektakulär. So jedoch vermittelte er den Eindruck, dass man selbst in seinen eigenen vier Wänden nicht sicher vor dem dunklen Schatten war.
Langsam und in die Finsternis spähend gingen sie am Waldrand entlang.
„Ich weiß ja nicht, was ihr sucht“, merkte Inius nach einigen Schritten an. „Aber wenn es dort drin sein sollte, ist es genauso, als würdet ihr es nicht finden. Niemand geht dort hinein und kommt lebend wieder raus.“
Akinna blieb stehen und funkelte ihn böse an.
„Ja, ja. Ich weiß. Du warst schon einmal dort drin und bist lebend wieder rausgekommen“, sagte er zu Dantra. „’tschuldigung, hatte ich kurz vergessen.“
Nichts, nicht ein Satz, nicht einmal ein Wort seiner Entschuldigung hörte sich aufrichtig und ehrlich an. Dantra wusste, dass Akinna Inius noch so sehr drohen konnte, er würde ihm niemals glauben, was er seinerzeit bei E’Cellbra dort drin erlebt hatte. Und ihm war auch klar, dass Akinnas Haltung Inius gegenüber nichts damit zu tun hatte, dass sie ihm bedingungslos glaubte. Sie wollte dem Zerrock nur nicht erlauben, ein schlechtes Wort über ihn zu sagen. Selbst wenn er behauptete, schon einmal auf einem Drachen geritten zu sein, würde Akinna darauf bestehen, dass Inius seinen Worten Glauben schenkte. Es war Zeit, sie von der Wahrheit zu überzeugen. Sie beide.
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