»In diesem Sturm?«
»Er sorgt dafür, dass wir die Wellen im richtigen Winkel nehmen«, brüllte Medeam gegen den Wind an, der auf dem Wellenkamm mit neuer Wucht an ihnen zerrte. »Sonst kentern wir.«
Athanor wollte antworten, doch der Wind riss ihm die Worte aus dem Mund. Erneut stürzte sich das Boot ins Wellental wie ein Schlitten, der einen Hang hinabsaust. Athanor spürte an seinem Haar, wie der Wind hin- und hersprang, als könnte er sich nicht für eine Richtung entscheiden. Die Linoreia begann im Sturz, sich zu drehen. Mit einem Mal kam das Wellental der Breitseite des Boots bedrohlich näher.
»Tut etwas!«, brüllte Athanor Thalasar zu, der mit konzentriertem Blick im Heck saß und einen Zauber wirkte, da er nicht einmal mehr das Ruder hielt, das stattdessen in der Luft hing. Wahrscheinlich hörte der Elf nichts, denn in diesem Augenblick rauschte die Linoreia in solcher Schräglage durch das Tal und in die nächste Woge hinein, dass sich ein Wasserschwall über die Bordkante ergoss. Bis in Athanors Stiefel schwappte es, bevor es, der neuen Neigung folgend, ins Heck floss, doch es blieb genug zurück, dass es Athanor bis über den Knöchel stand.
Wie auf ein stummes Kommando ließen Vindur und er den Mast los und gossen Eimer um Eimer Wasser über Bord, so rasch sie konnten. Auf dem Wogenkamm gelang es Thalasar, das Boot wieder gerade zu richten. Bug voran ging es den nächsten Hang hinab. Das eingedrungene Wasser brandete in dem kippenden Schiff nach vorn wie eine Springflut.
Noch ein solcher Schwall, und die Linoreia sinkt wie ein Stein! Athanor stemmte sich auf den abschüssigen Planken gegen die Kraft, die ihn gen Tiefe zog, und schöpfte um sein Leben. Immer wilder heulte der Wind in den Tauen. Immer unberechenbarer türmten sich die Wellen auf, verwandelten sich von gleichmäßig anrollenden Hügeln in ein zerklüftetes Gebirge. Wie Treibgut wurde das Boot durch die Dunkelheit gewirbelt. Auf dem tintenschwarzen Wasser tanzten Muster aus weißem Schaum.
Athanor blickte nicht mehr auf. Seine Arme bewegten sich wie von selbst. Längst spürte er die vom kalten Wasser tauben Finger nicht mehr, und doch hielten sie den Henkel des Eimers umklammert. Die durchnässten Kleider klebten ihm am Leib. Der Wind peitschte ihm das Haar ins Gesicht, doch er wagte nicht, es zurückzubinden, denn dafür hätte er den Eimer loslassen müssen – die einzige Waffe gegen diesen übermächtigen Feind.
Sosehr sich die Elfen auch mühten, wann immer Athanor glaubte, den Stand des Wassers im Boot gesenkt zu haben, schwappte neues herein. Auf der anderen Seite des Masts betete Vindur in endloser Folge dieselben Flüche vor sich hin, verwünschte Davaron, Schiffe und sämtliche Ozeane der Welt, bis ihm die Stimme versagte.
Wieder und wieder stieg die Linoreia einen Wellenberg hinan, nur um im nächsten Augenblick in einen Abgrund zu rasen. Athanor kippte mit ihr nach vorn und wieder nach hinten, rang um sein Gleichgewicht und das Leeren des nächsten Eimers zugleich. Mal neigte sich das Boot gefährlich weit zur einen, dann zur anderen Seite, sodass er gegen den Mast treten musste, um sich zu stützen. Bald wusste er nicht mehr, wie oft er geglaubt hatte, dass es nun zu Ende ging, dass Thalasars Zauberkraft schwand und sie zu den Riesen am Grund des Ozeans sinken würden.
Je länger ihm der Wind in die Ohren brüllte, je öfter die See das Schiff auf und nieder warf, desto gleichgültiger wurde er gegen das Toben der Elemente. Stur schöpfte er gegen das eindringende Wasser an. Längst waren seine Arme schwer. Sein Rücken ächzte, als stemme er Trolle über Bord. Doch er hatte nicht gegen blutrünstige Chimären und Heere von Untoten gekämpft, um sich jetzt einem dämlichen Sturm zu ergeben. Hörst du, Dunkler? Lass dir was Besseres einfallen! Ich werde den Bastard einholen und dir zu Füßen werfen!
Der nächste Brecher prallte auf die Linoreia , dass die Bordwand krachte. Wassermassen klatschten ins schwankende Boot, und Athanor schwang den Eimer mit neuer Wut.
Der Sturm tobte die ganze Nacht. Irgendwann war Athanor endgültig auf die Knie gesunken. Das Wasser reichte ihm manchmal bis zum Gürtel, brandete ihm bis ins Gesicht. Ganz von selbst glich sein Körper das Auf und Ab der Wogen aus. Seine Arme wuchteten Eimer um Eimer Wasser über Bord, ohne dass er es merkte. Er hatte keinen Blick mehr für Vindur, dessen Flüche verstummten, oder die Elfen, die wie Gespenster durch die Dunkelheit spukten. Er starrte ins Leere, während er in Gedanken mit Hadon, dem Totengott stritt. Seit Ewigkeiten drehte sich ihr Disput im Kreis. Athanor erklärte, dass er nicht sterben würde, und der Dunkle grinste höhnisch. Noch nie hatte Athanor das Gesicht des Gottes so deutlich vor sich gesehen. Es war nicht das runde Antlitz, das bei Vollmond aus grünlichen Linien auf einer fahlen Scheibe bestand. Es glich eher einem Totenschädel – hager, unheimlich, mit Augen, in denen selbst das Licht der Sonne erlosch.
Plötzlich bewegte die Erscheinung dünne Lippen. Eine Stimme, kalt wie eine Winternacht, ertönte in Athanors Kopf. »Warum sollte ich dich zu mir rufen, wo du mir so treue Dienste leistest?«
Athanor schreckte auf, als hätte er geschlafen. Das Bild des Dunklen verschwand abrupt, und doch war ihm, als hätte er nie zuvor etwas Wirklicheres gesehen. Gab es die Götter etwa doch? Warum hatten sie dem Untergang der Menschheit dann tatenlos zugesehen? Warum waren alle Gebete und Opfer an den lichten Aurades vergebens gewesen, wenn er doch Nacht für Nacht seinen dunklen Bruder Hadon besiegte? Athanor schüttelte sein durchnässtes Haar, dass die Tropfen flogen. Es war leichter zu glauben, dass es keine Götter gab, als mit ihrem Verrat zu leben.
»Es hat nachgelassen«, keuchte Vindur jenseits des Masts.
Die heisere Stimme drang durch das Rauschen des Wassers wie aus einer anderen Welt an Athanors Ohr. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten ließ er den Eimer sinken und sah sich um.
»Du merkst es doch auch?«, fragte Vindur, als fürchte er, er könnte sich irren.
Athanor brummte nur. Die Wellen waren noch immer beeindruckend, doch sie reichten nicht mehr bis zur Mastspitze empor. Der Wind, der eben noch ohrenbetäubend gebrüllt hatte, wehte nur schwach. Verglichen mit dem wilden Ritt, den sie hinter sich hatten, glitt die Linoreia geradezu sanft die Wogen hinauf und hinab. Der graue Dunst um sie her wurde heller. Der eben noch eisenschwarze Ozean nahm die Farbe guten Stahls an.
Ein Elf stieß einen Schrei aus und eilte nach hinten, wo Thalasar mit geschlossenen Augen neben dem Ruder lag. Athanor wollte aufspringen, doch seine kalten, tauben Beine versagten ihm den Dienst. Medeam stürmte an ihm vorbei, um seinem Verwandten zu helfen.
»Ist er tot?«, rief Athanor und erkannte seine krächzende Stimme kaum wieder. Mit zusammengebissenen Zähnen drückte er die steifen Knie durch und richtete sich auf.
»Nein, er lebt«, antwortete Medeam.
Gemeinsam betteten die beiden Elfen ihren Schiffsführer auf die Kisten, die aus dem eingedrungenen Wasser ragten. So lag er nicht bequem, aber wenigstens so trocken, wie es auf dem verfluchten Schiff möglich war.
»Wir müssen das verdammte Wasser loswerden«, knurrte Athanor und zwang seine widerstrebenden Finger, sich erneut um den Henkel des Eimers zu schließen. Jeder Muskel in seinem Körper sträubte sich, die mühsam errungene aufrechte Haltung wieder aufzugeben, doch es musste sein. Solange er im Wasser stand, würde er nie wieder warm werden.
»Aber was hat er?«, fragte Vindur mit einem besorgten Blick auf Thalasar. Wie konnte sich der Zwerg noch so flink bewegen? Machte ihm die Kälte denn überhaupt nichts aus?
»Das kommt vom Zaubern«, erklärte Athanor. »Ich habe das schon bei Davaron gesehen. Wenn sie zu viel Magie verbrauchen, werden sie ohnmächtig. Das wird wieder.« Zumindest hoffte er, dass es so war, denn er wusste nicht, ob sie einer der anderen Elfen über den Ozean bringen konnte.
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