»Glaubst du, ich mache ein Auge zu, solange dieser Ogersohn durch die Gegend schleicht?«
»Dann schnarchen Zwerge also auch, wenn sie nicht schlafen?«
»Natürlich nicht! Ich habe leise Goldbarren gezählt. Soll beim Einschlafen helfen. Stimmt aber nicht.«
Athanor lächelte matt. Mit einem hatte Vindur recht. Bis sie den Bastard erwischt hatten, würden sie keine Ruhe finden. Davarons Spur führte seit zwei Tagen gen Südwesten, und er fragte sich, ob ein Zusammenhang mit dem Drachen bestand, den sie bei Ardarea gesehen hatten. Seit auch Vindur diesen Verdacht schöpfte, sprach er noch abfälliger über den Elf – falls das überhaupt möglich war.
Gerade ritten sie einen Hügel empor, und Athanor behielt die Löcher im Auge, die Davarons Pferd mit den Hufen in den Bewuchs des Hangs gerissen hatte. Der Wald war hinter ihnen zurückgeblieben, während sich vor ihnen auf der Kuppe hohe Gräser im Wind wiegten.
»Heilige Götterschmiede!«, entfuhr es Vindur. »Was ist das?« Sichtlich beeindruckt hielt er sein Pferd an.
Athanor sah auf. Unter ihnen lag ein Streifen Marschland, und dahinter erstreckte sich Wasser bis zum Horizont. Im Sonnenschein leuchteten die Fluten so blau, dass selbst der Himmel dagegen blass wirkte. »Das muss der Ozean sein.«
Vindur stand vor Staunen der Mund offen. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so viel Wasser auf der Welt gibt.«
Kein Wunder. Soweit Athanor wusste, gab es im Zwergischen nicht einmal ein Wort für das Meer. Doch auch ihm fiel es schwer, den Blick wieder abzuwenden. Er hatte den Kaysasee in Ithara gesehen, in dem einst die Nymphe Kaysa gelebt und am Ufer den ersten Menschen geboren hatte. Damals war ihm der See groß vorgekommen, denn das andere Ufer war nur ein grüner Streifen. Aber hier … Selbst wenn er die Augen zusammenkniff, verschwamm in der Ferne alles in dunstigem Blau. Es war unmöglich zu sagen, wo das Wasser endete und der Himmel begann. Eine feuchte, salzige Brise wehte von dort heran und legte sich wie Schweiß auf seine Haut.
Hatte Elanya je den Ozean gesehen? Dieses tiefe Blau hätte ihr gefallen. Doch Davaron hatte sie in die graue Welt der Schatten gestoßen. Knurrend trieb Athanor sein Pferd den Hügel hinab. Er würde diesen Bastard einholen, und wenn er dazu den Rest seines Lebens brauchte. Er hat mir ohnehin genommen, wofür es sich zu leben lohnt. Ich bin wieder dort, wo ich herkam. Ein heimatloser Wanderer. Doch dieses Mal hatte er ein Ziel: Rache.
* * *
Von nun an ritten sie die Küste entlang. Oft reichte der Wald bis zum Strand, doch es gab auch breite Schilfgürtel, durch die nur sumpfige Pfade führten. Um lange Umwege zu vermeiden, querte Davaron die felsigen Landzungen, die weit ins Meer hinausreichten. Dann wieder galoppierten sie am Wasser entlang, das die Spuren des Mörders manchmal fortgespült hatte. Doch sie fanden die Fährte stets wieder, so sicher wie die Möwen und das Meer.
Der Ozean war das Rätselhafteste, was Athanor je gesehen hatte. Warum war das Wasser so widerlich salzig, obwohl es klar und einladend aussah? Wie konnten Fische in dieser Brühe leben und doch nicht vollkommen versalzen schmecken? Irgendeine magische Wirkung ging von diesem Wasser aus. Wie konnte es sonst sein, dass er immerzu aufs Meer sehen musste, obwohl er es nicht wollte? Zum Dunklen mit dem Trost, den der Anblick spendete. Er wollte nicht besänftigt werden. War das so schwer zu verstehen?
»Woher kommen diese Wogen?«, wunderte sich auch Vindur. Er deutete auf die kleinen Wellen, die sich unablässig am Ufer brachen und nach den Hufen ihrer Pferde leckten. »Wenn der Ozean ein großer See ist, müsste er doch still liegen. Es weht nicht einmal viel Wind.«
»Ich weiß es nicht«, gab Athanor zu. »Aber mein Lehrer behauptete, dass die Wasser des Ozeans ans Ufer schwappen, weil an seinem Grund drei gefesselte Riesen liegen und gegen ihre Gefangenschaft aufbegehren. Dieses Wissen soll zur Zeit des Alten Reichs von den Elfen auf uns gekommen sein. Aurades, der Sonnengott selbst, hat die Riesen am Ende des Ersten Zeitalters in die Tiefe verbannt, um seine Schöpfung vor ihrem unstillbaren Hunger zu bewahren.«
Vindur winkte ab. »Die Elfen behaupten auch, dass die Alten Drachen geschaffen wurden, um die Herrschaft der Riesen zu brechen. So ein Unsinn! Der Große Baumeister liebt die Riesen. Die Alten Drachen sind durch verderbte Magie entstanden – wie alles Schlechte in der Welt.«
Ob die Sicht der Zwerge nun mehr Wahrheit enthielt als jene der Elfen? Athanor schnaubte. »Die Geschichte der Drachen interessiert mich nicht.« Sie waren hinterhältige Bestien, die sein Volk ausgerottet hatten. Mehr musste er nicht über sie wissen.
»Vielleicht könnte dein Volk noch leben, wenn es mehr auf unser Wissen als auf das der Elfen gegeben hätte.«
Athanor warf seinem Freund einen zornigen Blick zu. »Reiz mich besser nicht, solange Elanyas Mörder nicht blutend vor mir im Sand liegt.«
Grollend jagte er sein Pferd erneut den Strand entlang. In der Ferne erhob sich ein Hügel, der weit ins Meer reichte. Davarons Fährte führte die Anhöhe hinauf, die von oben betrachtet wie eine Klaue in den Ozean ragte. Ihre Krümmung bildete eine geschützte Bucht, auf deren klarem, blauen Wasser eine Stadt schwamm. Athanor sah zweimal hin, um sich zu vergewissern, dass ihn seine Augen nicht täuschten. Die mit Stegen und Treppen verbundenen Häuser schaukelten tatsächlich. Auch an den Ufern des Fallenden Flusses hatte er ganze Dörfer im Wasser gesehen, aber sie thronten auf Stelzen hoch über den Fluten. Nur zur Schneeschmelze stieg das Wasser bis zu den Hütten hinauf.
Hier blickte er dagegen auf eine richtige Stadt aus mehr Häusern, als sich auf die Schnelle zählen ließen, und ein paar größere, prachtvolle Bauten überragten die anderen. Der Stadtrand war mit Bootsanlegern gesäumt, an denen Einbäume und schlanke Segelboote vertäut lagen. Wie die Halle der Abkömmlinge Ameas in Anvalon waren die meisten Dächer mit Goldried gedeckt, dessen Glanz viele Jahre der Verwitterung widerstand. Silbrige Schläuche, die der Wind zur Form von Fischen und Seeschlangen aufblies, wehten als Banner darüber. Nur das Dach des höchsten Gebäudes schimmerte wie eine Perle im Sonnenschein. Konnten die Schindeln aus Perlmutt gefertigt sein? Seit er Kithera, das schwebende Heiligtum der Abkömmlinge Heras gesehen hatte, traute Athanor elfischer Baukunst fast alles zu.
Davarons Spur führte direkt auf die Stadt zu. Sie folgten ihr den Hügel hinab und ließen die Pferde frei, die in der Nähe grasen würden, bis Athanor sie rief. Neugierig sahen erste Elfen zu ihnen herüber. Vom Strand führte ein Steg übers Wasser zur Stadt. Er war breit genug, um nebeneinander zu gehen, doch er gab unter Athanors Füßen nach, als ob sie sich auf einem Moor befanden. Bei diesem Schwanken grenzte es an ein Wunder, dass kein Wasser auf die Bohlen schwappte.
»Vom schaukelnden Rücken des einen Biests zum nächsten«, murrte Vindur. »Bist du sicher, dass dieses Ding stabil ist? Ich kann nicht schwimmen.« Einen Moment lang zitterten Vindurs Beine so sehr, dass Athanor es sehen konnte. Dann ballte der Zwerg die Fäuste und setzte einen Fuß vor den anderen. »Ebenso gut könnte man auf dem Schwanz eines Drachen balancieren.«
* * *
Bestaunt von tuschelnden Elfen, die aus ihren Fenstern blickten oder ihnen auf den Stegen entgegenkamen, betraten sie die Stadt. Kinder versteckten sich bei ihrem Anblick ängstlich hinter ihren Eltern oder rannten davon. Andere zeigten auf sie, lachten und staunten. Die Erwachsenen musterten sie mit mehr Fassung, doch dafür oft genug mit der üblichen Mischung aus Abscheu und Misstrauen. Sicher fragten sie sich, ob diese beiden merkwürdigen Wesen gefährlich waren. In Theroia hätten die Menschen die Stadtwache gerufen, aber in den friedlichen Elfenstädten gab es nichts dergleichen.
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