»Erzähl mir nicht, was ich schon weiß! Du drehst nur das Messer in der Wunde herum.«
Elanya biss sich auf die Lippe. »Entschuldige.«
»Ich habe dir die Geschichte nicht erzählt, um Mitleid zu erbetteln. Du sollst daraus lernen.«
Es hatte also doch mit Athanor und ihr zu tun.
»Du erwartest ein Kind von ihm?«
Erstaunt riss Elanya die Augen auf. »Woher weißt du das?«
Davaron zog spöttisch einen Mundwinkel hoch. »Eine Faunin hat’s mir geflüstert.«
»Aber das …«
»Hast du es ihm schon gesagt?«
»Nein«, antwortete sie überrumpelt. »Ich wollte erst ganz sicher sein.«
»Gut, das macht es leichter.« Er setzte sich wieder und holte einen Rindenbecher und eine kleine Feldflasche aus seiner Tasche. Der Geruch der milchigen Flüssigkeit, von der er einen Schluck einschenkte, kam Elanya bekannt vor. »Güldenfarn? Sadebeeren?«
»Und Wolfsblüte. Du bist Heilerin. Du weißt, was zu tun ist.« Davaron stellte den Becher vor ihr ab.
Elanya merkte, dass ihre Hände plötzlich zitterten. »Du willst, dass ich mein Kind töte?«
»Es wurde auf widernatürliche Weise empfangen. Die Faune haben ihre verfluchte Magie um euer Haus gewoben. Ich habe sie ertappt, als ich nachts vorbeikam.«
»Was kann das Kind dafür? Es hat dasselbe Recht zu leben wie du!«
»Hast du mir überhaupt zugehört? Dass ich geboren wurde, hat nichts als Leid und Tod erzeugt!«
»Mich hat niemand gefragt, ob ich diese Hilfe will. Mein Kind und ich schulden den Chimären nichts.«
»Es wird ihnen sein Leben verdanken«, beharrte Davaron wütend. »Seine Existenz!«
»Wenn du glaubst, dass ich mein Kind töte, nur weil du irgendetwas befürchtest, hast du den Verstand verloren.«
»Irgendetwas?«, fuhr Davaron auf. »Willst du unbedingt die Mutter von Imerons Befreier werden? Willst du einen neuen Krieg der Astare über diese Welt bringen? Dein Kind …«
»Bist du jetzt Aphaiya? Siehst du neuerdings die Zukunft voraus? Mein Kind …«
»Wird ein halber Mensch sein! Menschen sind gierig und unfassbar leicht zu manipulieren. Du kannst unser Schicksal nicht in ihre Hände legen wollen.«
»Ich werde das nicht trinken!« Elanya stieß den Becher um und sprang auf.
Davaron war fast ebenso schnell auf den Beinen und riss dabei noch das Schwert heraus. »Ich kann nicht zulassen, dass du den Chimären zum Triumph verhilfst. Merkst du nicht, dass sie dich zu ihrer Marionette machen? Heb die Flasche auf und beende es!«
Für einen Augenblick starrte Elanya entsetzt auf die gebogene Klinge, die Davaron drohend erhoben hatte. In seinem Blick loderte der Hass auf die Harpyien. Sie musste ihm entkommen, aber wie?
»Trink!«, brüllte er.
»Also gut.« Zum Schein beugte sie sich vor, ging ein wenig in die Knie, als ob sie den Gifttrank aufheben wollte. Mit der Linken langte sie nach der Flasche, während ihre Rechte verstohlen zum Griff ihres Messers glitt. Sobald sie das Heft in ihren Fingern spürte, warf sie sich zur Seite, rollte sich ab und zog die Waffe dabei heraus. Schon war sie wieder auf den Füßen und sprang auf. Doch sie sah nur noch das Aufblitzen der Klinge, die in ihren Hals fuhr.
Obwohl er gesehen hatte, dass der Drache in eine ganz andere Richtung geflogen war, empfand Athanor Erleichterung, als Ardarea wohlbehalten vor ihnen lag. Davaron würde sich über sie lustig machen, weil sie keine Beute mitbrachten, und sie würden wieder feindselige Blicke auf sich ziehen, doch es war ihm egal. Es zählte nur, dass er sich mit Elanya versöhnte, statt schmollend in den Wald zu verschwinden. Die Elfen machten ihr das Leben seinetwegen schwer genug.
»Kommt es nur mir so vor, oder ist es heute ungewöhnlich ruhig hier?«, wunderte sich Vindur.
Athanor sah sich um. Noch wanderten sie durch die versprengten Gärten, die mit dem Wald um Ardarea zu einem Ganzen verwoben waren, aber es waren in der Tat kaum Elfen zu sehen. Für gewöhnlich verbrachten sie viel Zeit in ihren Anpflanzungen, um durch Magie und liebevolle Pflege für reiche Erträge zu sorgen. »Vielleicht sind sie nach ihrem wilden Fest noch zu erschlagen.«
Vindur sah ihn zweifelnd an. »Wenn du einen Elfenreigen wild nennst …«
»Ich habe gehört, es gab immerhin eine Prügelei.«
»Was? Wenn ich die erwische, denen zieh ich die Ohren lang!«, entrüstete sich Vindur, bevor er das Lachen nicht mehr unterdrücken konnte. »Ohren lang … hihi … lang . Du verstehst?«
»Ja, Vindur, ich hab’s verstanden«, versicherte Athanor schmunzelnd. »Aber versuch wenigstens, etwas zerknirscht auszusehen, bevor wir beim Erhabenen ankommen.«
»Ohren lang«, schluchzte Vindur und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. »Herrlich.« Allmählich gelang es ihm, wieder eine ernste Miene aufzusetzen.
Sobald sie die ersten Häuser erreichten, entdeckten sie Elfen, die mit betroffenen Gesichtern beisammen standen oder tiefer in die Stadt hineinhasteten. Hatte der Drache Ardarea doch heimgesucht? Alarmiert blickte Athanor zum Himmel, ob ihm eine Rauchsäule über der Halle der Wächter oder ein ähnliches Anzeichen für Ärger entgangen war. Doch außer ein paar kreisenden Sperbern sah er nichts.
»Wo wollen die denn alle hin?«, fragte Vindur.
»Finden wir es heraus.« Athanor lief hinter einem der Elfen her. »Was ist passiert?«, rief er ihm zu.
Der Fremde bedachte ihn mit einem undeutbaren Blick. »Elanya soll etwas zugestoßen sein. Sie wurde zum Haus ihrer Eltern ge…«
Athanor hörte nicht, was der Elf noch sagte. Er rannte so schnell, dass er nicht einmal wahrnahm, ob Vindur noch bei ihm war. Elanya ist etwas zugestoßen, und ich war nicht da. Ich war nicht da. Ich war nicht da. Wie eine Peitsche trieb ihn der Gedanke voran.
Vor Elanyas Elternhaus hatte sich eine Elfentraube gebildet. Ein wenig abseits grasten Pferde, als wäre nichts geschehen, doch die entsetzten Mienen der Elfen bewiesen das Gegenteil. Rücksichtslos bahnte sich Athanor einen Weg durch die Menge. »Lasst mich durch! Darf ich mal? Ich muss …« Er verstummte, als der Erhabene und seine Frau zurückwichen und ihm den Blick auf das Geschehen vor dem Eingang freigaben. Elanyas Vater sah mit Tränen in den Augen auf seine Töchter hinab, während seine Frau stumm das Gesicht in den Händen barg. Aphaiya hielt Elanyas Hand umklammert und schluchzte hemmungslos hinter ihrer Maske. Athanor war, als sei er zugleich schwer wie ein Berg und leer wie ein hohler Baumstamm geworden. Ein eisiger Wind strich durch seine Rippen, obwohl sich kein Lufthauch regte. Sein Gewicht zog ihn neben Elanya auf die Knie. Bleich und still lag sie im Gras. Wie eine gestürzte Statue aus Theroias zerstörtem Palast. Ihre gebrochenen Augen starrten blicklos ins Nichts.
Athanor berührte sie nicht. Er hatte so viele Leichen berührt. Sie waren nur kaltes, totes Fleisch, das Erinnerungen zerstörte. Elanya war längst fort. Aus dem Licht dieses herrlichen Tags in die Dunkelheit gerissen. Er konnte sie gar nicht berühren. Seine Arme waren so schwer, so leblos. Hatte er überhaupt noch Arme? Er merkte es kaum. Er konnte nur noch auf die Wunde starren, von der jemand das Blut gewaschen hatte. Ein glatter, tiefer Schnitt durch die Kehle. Elanyas Kopf war so gebettet, dass es kaum mehr als ein Strich schien. Doch das Blut, mit dem ihr Hemd getränkt war, sprach eine andere Sprache.
Das war Mord.
Wie der Stoff das Blut aufgesogen hatte, saugte die Leere in Athanor diesen Gedanken auf, bis sie ganz davon erfüllt war. Jemand hatte diese Klinge geführt. Jemand, der ihr Vertrauen erschlichen oder sie von hinten angefallen hatte. Athanor sah die gesichtslose, niederträchtige Gestalt vor sich, wie sie sich auf Elanya stürzte. »Wer hat ihr das angetan?«, brachte er heraus. In den Abgründen seines Innern keimte Wut auf. Dieser Unbekannte hatte ihm Elanya genommen. Ihr die Kehle aufgeschlitzt wie einem Lamm auf der Schlachtbank. Ausgerechnet Elanya!
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