Das veränderte Geräusch des Winds in den Baumkronen verriet ihr, dass sie am Kiefernhain vorüberlief. Herabgefallene Nadeln waren bis auf den Weg geweht und stachen in ihre Zehen.
»Ist etwas passiert? Brauchst du Hilfe?«, rief ihr jemand nach.
Aphaiya schüttelte nur den Kopf. Ihr fehlte der Atem für Worte. Es musste Jahrzehnte her sein, dass sie gerannt war. Eine Spur Rauch in der Luft kündete die ersten Häuser Ardareas an. Der Geruch schnürte Aphaiya die Kehle zu. Wieder sah sie die Flammen, hörte ihr Prasseln, und der Qualm biss ihr in die Lunge.
»Aphaiya, was …« Die Stimme brach ab, als Aphaiya einfach vorbeihastete.
Rosenduft stieg ihr in die Nase, linderte ein wenig ihren Schmerz. Sie liebte Rosen, konnte alle Sorten am Duft unterscheiden. So wusste sie immer, wo sie sich in Ardarea befand.
»Vorsicht!«, rief jemand und wich ihr gerade noch aus.
Sie hörte das Rascheln des Gewands und empört ausgestoßenen Atem. »Entschuldigung!« Ein neuerliches, lauteres Rascheln von Laub im Wind kündigte die Halle der Acht an. Die acht Bäume, die die Ecken der Halle bildeten, waren so hoch, dass sie selbst dann rauschten, wenn sich am Boden kein Lufthauch regte. Von hier war es nicht mehr weit zum Gästehaus.
»Aphaiya!«, rief Peredin von irgendwoher, tadelnd und besorgt zugleich.
»Später!«, antwortete sie und hörte, wie vor ihr hastig Leute zur Seite traten. »Ich muss zu Elanya.«
Hinter ihr flüsterten sich die Passanten bange Fragen zu, doch über ihren pfeifenden Atem verstand sie die Worte nicht. Ihre Lungen brannten nun auch ohne Rauch. Wie eine Faust hämmerte ihr Herz gegen die Rippen. »Elanya!«, krächzte sie unerwartet leise und versuchte es gleich noch einmal. »Elanya!«
»Langsam, Kind, du wirst noch jemanden umrennen!«, mahnte ihre Mutter.
Aphaiya blieb keuchend stehen und lauschte. Wie nah war sie schon? Ihre Mutter nahm ihre Hand. »Aphaiya, was ist geschehen?«
»Ich muss Elanya warnen. Ich habe Schreckliches gesehen.«
Die Finger ihrer Mutter verkrampften sich. Sie hörte sie hart schlucken. »Sie ist nicht hier. Die Nachbarn sagen, sie ist mit Davaron fortgeritten.«
Aphaiyas Herz setzte einen Schlag aus. »Jemand muss ihr nacheilen! Sie wird sterben!«
* * *
Elanya ließ ihr Pferd hinter Davarons Grauschimmel hertrotten und genoss die Stille des Waldes. Nach dem Streit mit Athanor hatte sie sich Ablenkung gewünscht, doch stattdessen war sie am nächsten Morgen zum Erhabenen gerufen worden. Peredin mochte Athanor zwar aus Mitleid gewogen sein, weil er der Letzte seines Volks war, aber er verstand ihn nicht. Elanya bezweifelte, dass irgendein Elf – selbst sie – vollständig begriff, was in einem Menschen vorging. Konnten sie nicht einfach darüber hinwegsehen? Nicht einmal untereinander verstanden sie immer, was den anderen bewegte. Doch Peredin hatte ihr Ratschläge erteilt, wie sich Athanors Verhalten in angemessenere Bahnen lenken ließ. Als wäre er ein ungezogenes Kind, das ich erziehen soll.
Wieder griff die Empörung nach ihr und drohte, ihr den Ausritt zu verderben. Tief atmete sie die kühle Waldluft ein und lenkte ihren Blick zum lichten Gewölbe der Baumkronen empor. Wie sollte sie den ganzen Ärger vergessen, solange der Streit zwischen ihr und Athanor nicht beigelegt war? Und dass ihr Vater seit der Prügelei nicht mehr mit ihr sprechen wollte, bis sie sich von Athanor getrennt hatte, war kaum leichter zu ertragen als die Vorträge ihrer Mutter. Den ganzen Tag hatte ihr jemand mit Beschwerden über Athanor in den Ohren gelegen, bis sie die Tür verriegelt hatte. Konnten sie nicht endlich Ruhe geben und ihre Wahl akzeptieren?
Seufzend versuchte sie, nur noch den Stimmen der Vögel und dem Rascheln der Hufe im Laub zu lauschen.
»Denkst du schon wieder an Athanor?«, fragte Davaron spöttisch. Wie stets hatte er gewirkt, als ob er düster vor sich hinbrüte, aber heute stand sie ihm wohl in nichts nach.
Ich hätte allein ausreiten sollen. Doch wäre Davaron nicht aufgetaucht, hätte sie es nicht getan – aus Angst, Athanor zu begegnen. Er sollte nicht glauben, sie laufe ihm nach. »Das geht dich nichts an.«
»Ich frage mich nur, warum du das alles für einen Menschen auf dich nimmst.«
Ging das schon wieder los? »Seit wann darf eine erwachsene Frau nicht mehr lieben, wen sie will?«
Davaron zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, das hat sich meine Mutter damals auch gefragt.«
Grollend starrte Elanya seinen Rücken an. Wollte er ihr ein schlechtes Gewissen machen? Aber vielleicht tat sie ihm unrecht. Seine Mutter war eine Tochter Piriths gewesen und hatte gegen den Willen und den Brauch beider Stämme einen Sohn Ardas geheiratet. »Ist sie … Glaubst du …« Davarons Mutter war vor einigen Jahren zum Ewigen Licht gewandert und hatte sich dort das Leben genommen. Sein Vater lebte seitdem als Einsiedler fern von Freunden und Verwandten, die ihn vergebens baten, zurückzukehren.
»Dass sie sich umgebracht hat, weil sie die missbilligenden Blicke nicht mehr ertrug?«
Wie konnte ein Elf so barsch klingen, wenn er über das schreckliche Schicksal seiner Mutter sprach?
Davaron schüttelte den Kopf. »Nein, das war es nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Erzähle ich dir später. Wenn wir angekommen sind.«
»Was willst du mir denn nun so Wichtiges zeigen? Hast du Fortschritte mit deiner Erdmagie gemacht?«
»Ich will hoffen, dass du niemandem davon erzählt hast.«
Elanya verdrehte die Augen. War es ihm immer noch so wichtig, den Anschein eines reinerbigen Sohn Piriths zu wahren, um die Vorurteile gegen Bastarde Lügen zu strafen? Sein Volk hatte ihn nach der siegreichen Rückkehr aus Theroia gefeiert und sogar in den Rat entsenden wollen. Wozu dann noch das Versteckspiel? »Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Aber findest du nicht …«
»Ich habe Fortschritte gemacht. Nur leider nicht in dem Zauber, den du mir gezeigt hast.«
»Oh.« Sie verkniff sich die Bemerkung, dass er dann wohl kein Talent für diese Art Magie besaß. Ein Samenkorn zum Keimen zu bewegen, was im Grunde dem Wunsch des Samens entsprach, gehörte zu den einfachsten Zaubern, die Elanya kannte.
Davaron sagte nichts mehr, und nach einer Weile setzte er sein Pferd in Trab. Da er immer schweigsam war, vermochte Elanya nicht zu sagen, ob er sich ärgerte oder nur den üblichen Gedanken nachhing. Im Grunde war es ihr gleich. Auf ihrer gemeinsamen Reise zu den Zwergen hatte sie gelernt, seinen Launen keine Bedeutung beizumessen.
Lange Zeit folgten sie einem Bachlauf, und Davaron ritt erst wieder langsamer, als sie sich einer Kette schroffer, aber niedriger Berge näherten. Allmählich empfand Elanya das Schweigen als bedrückend. Es ließ zu viel Raum für Erinnerungen an die Streitereien der letzten Tage.
»Ich bleibe bei Athanor, weil er der Einzige ist, der keine Erwartungen an mich stellt«, sagte sie in die Stille hinein. »Er verurteilt nicht, dass ich mein Leben bei der Grenzwache riskiere. Er will mich nicht dazu bringen, in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten, nur weil sie uns eines Tages als große Heilerin fehlen wird. Und er schreibt mir nicht vor, wen ich zu lieben habe.«
»Über den letzten Punkt lässt sich streiten«, erwiderte Davaron belustigt.
Elanya musste selbst lachen. »Einverstanden. Das zählt nicht.«
Je näher sie den Anhöhen kamen, desto mehr fielen Elanya die steilen Hänge und Felsabbrüche auf. Sie war nicht zum ersten Mal in dieser Gegend, und sie verband sie mit irgendetwas, aber es wollte ihr gerade nicht einfallen. Warum führte Davaron sie ausgerechnet hier her? Hinter diesem Höhenzug lag seine Heimat, aber was hatte das mit ihr zu tun?
Davaron ritt in eine der engen Schluchten, an deren Grund ein Rinnsal dem Wald entgegenfloss. Es war kühl und schattig, während hoch über ihnen die Sonne auf die Felswände brannte. Hier ist seine Frau gestorben! Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Unwillkürlich sah sie zu dem schmalen Streifen Himmel auf, den sie vom Boden der Schlucht aus sehen konnte. Zwei Raben flogen an der Felskante entlang. Keine Harpyien. Elanya wischte ihre dunklen Ahnungen fort, doch sie bereute, ihr Schwert nicht mitgenommen zu haben. »Du hättest mir sagen können, dass wir in eine gefährliche Gegend reiten.«
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