1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 „Was? Du hast den Artikel gelesen? Wirklich?“
„Ach Paps, du weißt doch, dass ich mich für medizinische Sachen interessiere!“
„Allerdings.“ Prähausner lächelte. Im Alter von etwa drei Jahren, nach einem Besuch bei der Hausärztin, der der grippekranken Franzi Linderung verschafft hatte, war das Interesse des Kindes für den menschlichen Körper erwacht. Die Sprechstunde, in der die kleine Ärztin, Frau Dr. Franzi, umständlich Prähausners Geschlecht untersucht und festgestellt hatte, dass es da einen Unterschied zur Mama gebe, war ihm noch gut in Erinnerung. „Freut mich, dass du ab und zu die Nachrichten liest. Und? Was sagt Google? Hast du was gefunden?“
„Ja, da gibt es eine Menge. Zum Beispiel anschauen . Das geht so:“ Sie formte mit Zeige- und Mittelfinger ein Victory-Zeichen und führte es in einer Art Wellenlinie auf Höhe ihres Kinns von rechts nach links. Dabei blickte sie Mara unverwandt an.
Die Fremde formt die Gebärde augenblicklich nach, auf eine ungleich elegantere Weise als meine Tochter. Dabei gluckst sie glücklich in Franzis Richtung, ein staunenswert naives, fast schon kindliches Lachen im Gesicht. Plötzlich ist keine Spur von Gefallsucht, von Koketterie mehr in ihrem Verhalten. Wie würde jemand, der gehörlos ist, ihren Catwalk-Auftritt beurteilen? Keine voll aufgedrehte Stereoanlage, ein lautes Lippenstiftrot im Gesicht. Keine explizite vorherige Ankündigung, die Aufmerksamkeit erzeugt, kein „Casual“ und kein „Business-Look“, sondern eine überdeutlich verführerisch ausgestellte Hüfte. Wie schwierig muss es sein, sich bei anderen Gehör zu verschaffen, wenn man selbst nicht sprechen kann? Kein Wunder, dass Mara kräftig mit dem visuellen Lautstärkeregler spielt. Nur so kann sie sicher sein, dass ich alles mitkriege.
„Ich dich anschauen!“ Franzi zeigte auf sich selbst und dann auf die junge Frau, bevor sie wieder die Wellenlinie zeichnete.
Mara nickte. Sie zeigte auf ihre Augen, bevor sie ihre Victory-Finger leicht durch die Luft gleiten ließ.
„Sie kann reden! Man hört es bloß nicht!“ Franzi deutete auf sich selbst, legte sich die rechte Hand auf ihre Herzgegend und zeigte dann auf Mara. „Ich mag dich!“, sagte sie überdeutlich langsam.
Die Fremde gurrte, bevor sie Franzis Hände ergriff und sie kurz an ihr Herz zog. „Schau, wie einfach das ist, Pap!“, rief Franzi. „Komm, sag ihr, dass du sie magst.“
„Nein, das geht nicht“, weigerte sich der Redakteur. Schnell stand er auf. „Sie ist eine Frau und ich bin ein Mann. Das könnte sie falsch verstehen.“ Er lobte seine Tochter für ihr pädagogisches Geschick, dann wünschte er den beiden Freundinnen noch viel Spaß und ging aus dem Raum.
Prähausner starrte ins Dunkle. Er fand keinen Schlaf, und das, obwohl Franzi sich auf der Wohnzimmercouch ausgestreckt hatte, bereit, bei der geringsten Unruhe, die aus ihrer Kammer kam, aufzuspringen und Mara zu beruhigen.
Hertha hatte ihm nicht einmal eine Standpauke gehalten, als er ihr am Telefon von Franzis unabänderlichem Beschluss, die Nacht in seiner Wohnung zu verbringen, erzählt hatte. Im Gegenteil, sie war nach anfänglicher Verblüffung sogar sehr zugänglich geworden und hatte fast so etwas wie Respekt erkennen lassen.
Prähausner konnte nicht einschlafen, weil wieder Mara vor seinen Augen stand, weil das Sarigelb in meinen überreizten Gehirnwindungen gleißt, weil der schwarze Duft ihres Haares macht, dass ich unwillkürlich die Luft einsauge, aber da ist nur der Muff der Tuchent. Wann habe ich mein Bett das letzte Mal frisch überzogen? Vor fünf oder sechs Wochen, weit vor Beginn der ganzen Flüchtlingsgeschichte, muss es gewesen sein.
Hier im Schlafzimmer ist es ruhig, nur von den fernen Gleisen des Verschubbahnhofs höre ich ein leises Klonken und ein Quietschen; dort werden, wie jede Nacht, Güterzüge zusammengestellt, und, wie ich unter der Hand erfahren habe, auch immer mehr Sonderzüge aus alten Personenwaggons, in denen die Vertriebenen in die Steiermark oder nach Kärnten gebracht werden, nach Vorarlberg oder nach Tirol, immer dorthin, wo gerade eine Mehrzweckhalle oder ein altes Hotel für sie freigemacht worden ist. Man rangiert sie hin und her, Verschubmasse der Verzweiflung darüber, dass die Tiefgarage am Bahnhof längst voll ist, dass in den beiden Schulturnhallen, die erst gestern adaptiert worden sind, alle Feldbetten belegt sind.
Leute, öffnet eure Wohnungen für die Vertriebenen, nehmt für zwei oder drei Nächte, für drei oder vier Wochen junge Männer aus dem Irak auf oder aus Afghanistan, eine Familie aus Syrien oder aus Nigeria. Nehmt euch ein Beispiel an mir, Ingo Prähausner, der ich einer jungen Frau alle erdenkliche Hilfe angedeihen lasse, obwohl ich sie nicht einmal fragen kann, weshalb sie sie benötigt. Ich werde nie erfahren, woher Mara stammt, werde nicht einmal ihren wahren Namen wissen, aber dennoch habe ich ihr meine Türe und mein Herz geöffnet. Leute, seht, wie sehr sie meine Hütte mit ihrem Safran beglänzt, wie aufregend exotisch mein Leben geworden ist, seit ich ihr Obdach gewährt habe. Selbstlosigkeit führt in die Sonne; Angst, Misstrauen und Ablehnung leiten zurück ins Dunkel, das habe ich mit meiner toleranten Art bewiesen! Ich schreibe nicht nur über die Notwendigkeit, sich solidarisch füreinander einzusetzen, ich lebe auch danach – ohne den geringsten Hintergedanken, ohne ein Gran von der egoistischen Gier, die ich so oft in meinen Kommentaren angeprangert habe. Leute, nehmt euch ein Beispiel an meiner beeindruckenden Mildtätigkeit und inseriert in der App der Grätzelnachrichten , statt auf fragwürdigen Internetseiten. Moralische Fragen werden in der Werbung immer wichtiger, besonders in Zeiten der Krise.
„Ein guter Artikel. Der Gebirgsjäger wird immer besser.“ Prähausner scrollte ein wenig zurück und las laut vor:
„Österreich ist ein schönes Land. Nur die Sonne zeigt sich so selten“, sagt Ahmed aus Kabul. „Hoffentlich ist es in Helsinki wärmer. Bald werden wir dort sein.“ Ich verabschiede mich und bringe es nicht übers Herz, Ahmed wissen zu lassen, dass es in Finnland weit weniger Sonne geben wird als hier in Österreich .
Ich bringe es nicht übers Herz, ihn wissen zu lassen“, wiederholte Prähausner. „Das ist fast schon literarisch ausgedrückt.“ Er strich sich ein paar Haarsträhnen, die sich aus seinem Pferdeschwanz gezaust hatten, hinter das rechte Ohr zurück.
„Ja. Das Thema liegt ihm. Er ist ein politischer Kopf.“ Annabel stand von ihrem Schreibtisch auf und räkelte ihre Arme in Richtung Decke. „Ah, das tut gut. Gestern Abend war wieder Yoga-Kurs. Du könntest dich eigentlich auch mal ein bisschen bewegen.“ Sie streckte ihre Arme V-förmig in Richtung Decke. Es sah aus, als hätte sie sich als menschliches Ausrufezeichen hinter ihren letzten Satz gesetzt. Das war eine Aufforderung wie ich sie nur allzu gut von Hertha kenne, hättest du, könntest du, würdest du . Höflich bis zur Selbstverleugnung, aber mit einem derart leidenden Unterton, dass sich das schlechte Gewissen sofort zur Hintertür hereinschleicht und ich das Erbetene sofort erledige. Nein, ich werde mich nicht bewegen, ich werde an meinem Schreibtisch sitzen, bis sich meine Finger über der Tastatur versteifen, bis ich nicht mehr aufstehen kann und du, liebe Annabel, mich in Richtung Friedhof schleppen musst. Jetzt beugt sich die Kollegin mit durchgestreckten Beinen nach vorne und nimmt eine seltsam baumelige Körperhaltung ein, Kopf und Arme hängen nach unten. Mit einer Stimme, die unter ihrem Schreibtisch gründelt, fordert sie mich noch einmal auf, etwas für meinen Körper zu tun. Danke, Annabel, mein Gehirn ist auch so ganz gut durchblutet, ich brauche meinen Kopf nicht hängen zu lassen.
Ach, was muss ich ständig an Frauen geraten, die sich nach fernöstlicher Spiritualität verrenken, die sich an mich heranmeditieren oder mich mit ihrer Safranglut verbrennen? Warum kann Annabel nicht einfach in die Kirche gehen und niederknien, warum liest Hertha in einem Achtsamkeitsratgeber, statt ein Vaterunser zu beten?
Читать дальше