Ich hatte das Privileg, die Beerdigung einer Dame aus dem Seniorenkreis unserer Gemeinde zu gestalten, die in ihren Neunzigern verstorben war. Ich kannte die Frau recht gut. Zwei Monate bevor ihr Leben endete, vertraute sie mir bei Kaffee und Kuchen ihre Lebensgeschichte an.
Als junges Mädchen spielte der christliche Glauben in ihrem Leben eine große Rolle. Sie war in einer Pfingstgemeinde aktiv und spürte diesen starken Glauben in ihrem Herzen. Die Gegenwart Jesu war für sie so real, obwohl um sie herum die Welt aus den Fugen geriet. Es waren die schweren Kriegsjahre. Wie viele andere Frauen dieser Generation teilte sie das Schicksal, dass ihr Verlobter zum Kriegsdienst eingezogen wurde und an dem Angriffskrieg auf die Sowjetunion teilnahm.
Es war eine Zeit großer Ungewissheit. Würde er wieder sicher und wohlbehalten nach Hause kommen? Oft stand sie mit anderen Frauen in der Küche bei der Hausarbeit und stellte sich diese Frage. Sie hätte allen Grund gehabt, sich Sorgen zu machen. Doch bei ihr war es anders.
Jesus schenkte ihrem Herzen die klare Gewissheit, dass sie ihren Mann wohlbehalten wiedersehen würde. Alles würde gut ausgehen. Da war nicht der Hauch eines Zweifels. Was für ein starker Glaube! Jesus war fühlbar da. Und so geschah es auch. Jahre später hielt sie ihren gesunden Mann in den Armen.
Von diesem Glauben ihrer Jugendzeit erzählte sie mir mit Sehnsucht, denn seitdem war vieles anders geworden. Der Glaube war nicht mit einem Mal verschwunden, aber er war über die Jahrzehnte verblasst. Jesu Gegenwart war zu einer Erinnerung geworden. Das Gefühl war schon lange nicht mehr da.
Doch während sie mir das zweite Stück Kuchen auftat – worüber man mit Damen dieser Generation lieber nicht streitet –, vertraute sie mir ihr kleines Geheimnis an. »Wissen Sie was, Herr Pastor, neulich, da war es wieder da. Da haben wir im Seniorenkreis darüber gesprochen, dass wir ja alle nicht die Menschen sind, die wir sein sollten. Aber dass ja gerade deshalb Jesus in die Welt gekommen ist, um uns zu erlösen. Und da war es wieder.«
Ehrlich gesagt konnte ich mich an besagten Moment gar nicht erinnern. Er wird nicht sonderlich spektakulär gewesen sein. Auch die Botschaft war nicht spektakulär und kannte keine rhetorischen Raffinessen. Es war das Evangelium mit einfachen Worten. Und es war dieses Evangelium, das in ihr wieder Gefühle freisetzte.
So verließ sie wenige Wochen später dieses Leben, aber meine Erinnerungen wird sie nie verlassen. Ihr Zeugnis wird mir immer bleiben. Jesus ist in die Welt gekommen, um Sünder selig zu machen (vgl. 1. Timotheus 1,15). Sünder, in deren Herzen nur Asche übrig geblieben ist. Dieser Jesus war ihre Hoffnung. Und er ist deine.
Im Christentum geht es also um das, was in Gottes Herzen ist. Doch wie erfährst du etwas davon? Wie zeigt Gott dir die Liebe, die in seinem Herzen wohnt? Wie kommuniziert er mit dir? Wir gehen zurück zum Anfang, zu der Geschichte von Christina.
Christina erlebt, dass Gott fern ist und schweigt. Er redet nicht mehr mit ihr. Sie hat eine bestimmte Vorstellung davon, wie Gott spricht: Gott lässt in ihrem Herzen ein Gefühl seiner Gegenwart und Nähe entstehen, sodass sie seine Liebe unmittelbar spürt. Gott im Himmel bräuchte nur mit den Fingern zu schnipsen und dieses Gefühl entstünde sofort wieder in ihrem Herzen. Aber genau das tut er nicht.
Viele Christen stellen sich Gottes Kommunikationsverhalten so vor wie Christina. In der Bibel zeigt uns Gott aber ein anderes Bild.
Wenn Gott in der Bibel mit Menschen kommuniziert, dann tut er das in der Regel nicht unmittelbar, indem er direkt ein Gefühl in ihren Herzen entstehen lässt. Gott kommuniziert viel lieber anhand von Mitteln. Er ist ganz verliebt in die kleinen und großen Dinge dieser Welt, die aus Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und all den anderen Elementen und Atomen zusammengesetzt sind, die ich mir im Chemieunterricht nie merken konnte. Er hat ein Faible für süße Früchte, die an Bäumen wachsen. Er kann sich an dem Anblick eines bunten Regenbogens nach dem Sturm gar nicht sattsehen. Er liebt es, im Matsch zu spielen.
Von den ersten Seiten der Bibel an begegnet uns ein Gott, der seine Liebe in Dinge einhüllt, die wir mit den Augen sehen, mit der Hand fühlen und mit dem Mund schmecken können. Gott liebt diese Mittel. Das beginnt schon bei Adam und Eva. Aus lauter Liebe schafft Gott die ersten Menschen. Er lässt sie aber nicht in einer Geisterwelt leben, sondern in einem wunderschönen Garten. Der Tod war noch nicht da. Denn unsere Vorfahren bekamen von Gott obendrein ein ewiges Leben geschenkt.
Aber wie tat Gott das? Durch ein bloßes Fingerschnipsen? Nein. Gott benutzte dafür ein Mittel. Er stellte in den Garten Eden nicht nur den Baum der Erkenntnis, von dem er Adam und Eva zu essen verbot. Er schuf ebenso einen zweiten Baum, den Baum des Lebens, der so wunderschön aussah, dass man wohl minutenlang staunend vor ihm stehen konnte. An diesem Baum wuchsen Früchte, so lecker und süß, dass es all unser Vorstellungsvermögen überschreitet (vgl. 1. Mose 2,9). Gott schenkte Adam und Eva das Leben. Aber er tat das nicht unmittelbar, sondern durch eine süße Frucht. Gott liebt Mittel, um uns seine Liebe zu zeigen. Hier zeigt er seine Liebe durch Essen.
Die biblische Geschichte nimmt in diesem Sinne weiter ihren Lauf. Als Noah nach der Sintflut die Arche verlässt, liegen hinter ihm düstere Tage, an denen er Gottes Zorn eingehüllt in Wassermassen um Wassermassen gesehen hat. Als er sich jetzt umschaut, sieht er eine Welt in Trümmern. Kein Stein war auf dem anderen geblieben. Wie würde es mit diesem Gott in Zukunft weitergehen?
Doch Gott beseitigt alle Unsicherheit. Er macht Frieden. Aber er zeigt Noah diesen Frieden nicht, indem er durch ein Fingerschnipsen ein Gefühl in seinem Herzen entstehen lässt. Gott unterschreibt den Friedensvertrag in den Farben Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Dunkelblau und Violett. Er malt Noah den schönsten Regenbogen der Welt vor Augen. Es geht in erster Linie nicht darum, dass Noah Gottes Frieden fühlt, sondern dass er ihn sieht. Gott liebt Sichtbares. Er liebt die Reflexion von Licht im Regentropfen, um seinen Frieden zu zeigen.
Gott liebt es, anhand von Mitteln zu kommunizieren. Das ist nicht anders, als Gott Mensch wird. Denn der Königssohn liebt es, im Matsch zu spielen.
Eines Tages bleibt Jesus auf seinem Weg zum Tempel plötzlich stehen (vgl. Johannes 9). Da sitzt dieser Mann. Sein ganzes äußeres Erscheinungsbild, die alten Kleider und die bettelnde Hand, sie schreien nur so vor Armut. Seine etwas unsicheren Bewegungsabläufe und seine Körperhaltung verraten noch mehr. Er ist blind, kann darum nicht arbeiten und ist zum Betteln verdammt.
Wer Jesus kennt, ist von dem weiteren Fortgang der Geschichte nicht überrascht. Jesus heilt. Das Licht der Welt schenkt diesem Mann das Augenlicht. Überraschend und reichlich gewöhnungsbedürftig ist jedoch, wie Jesus das tut.
Jesus heilt nicht durch ein Fingerschnipsen, sondern durch ein Mittel. Er spuckt auf den Boden. Der Speichel verbindet sich mit der Erde und es entsteht etwas Matsch. Diesen Matsch streicht er dem Blinden auf die Augen. Das klingt zunächst einmal einfach nur eklig. Aber versetzen wir uns in diesen Blinden hinein. Er kann nicht sehen, was auf ihn zukommt. Aber er kann jetzt fühlen, wie sich Jesus seinen Augen zuwendet. Jesus gibt etwas von sich spürbar auf seine Augen. Jesus lässt ihn wieder sehen – durch ein Hilfsmittel.
Durch das Christentum geistert das Bild eines mittellosen Gottes. Aber nicht durch die Bibel. Sie erzählt von einem Gott, der Mittel benutzt, um uns seine Gnade zu zeigen. Ja, »Gott ist Geist« (vgl. Johannes 4), aber wir Christen sind manchmal viel zu geistig unterwegs und denken: Je mehr Gott dieser physischen Realität enthoben ist, desto besser. Aber Gottes Geist liebt die Mittel dieser Welt.
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