Bei den Themen dieses Buches haben wir es mit dem »angefochtenen« Glauben zu tun – und davon versteht Dr. Martinus eine Menge. Und wem es jetzt schon zu viel »Luther« ist, den kann ich trösten. Da gibt es noch andere aus den TOP 10 der christlichen Helden, u. a. (natürlich!) den reformierten Timothy Keller und (selbstverständlich) den Anglikaner C. S. Lewis.
Meine Sicht auf die »fromme« Christenheit im Land ist gerade die: Es zieht und zerrt an uns. Die einen zieht es in Richtung allergrößter, leider aber durch die Bibel kaum gedeckter Versprechungen von steter Gottesnähe und Gottesflüstern im Herzen, von Heilung und Heiligung, von Wachstum und Erweckung. Die anderen treibt es in die Gegenrichtung: Sogenannte postevangelikale Tendenzen zeigen sich, wo plötzlich auch in »unseren Kreisen« infrage steht, ob die Bibel tatsächlich unsere Richtschnur für alle Fragen des Glaubens sein kann. Oder ob der Gekreuzigte und sein Sterben an unserer Stelle und zu unseren Gunsten tatsächlich der einzige Weg ist, mit Gott wieder ins Reine zu kommen. Es ist gar nicht so einfach, Kurs zu halten und im Glauben so nüchtern wie hoffnungsvoll zu bleiben – auch an den Tagen, an denen es nicht einfach ist, Gott das Vertrauen zu schenken.
Da finde ich es ausgesprochen spannend, genau diese Spur ernsthaft zu erkunden, die die Reformatoren gelegt haben, und die bedrängenden Fragen noch einmal neu anzuschauen: Nein, es ist nicht entscheidend, was du gerade fühlst, aber du kannst dir sagen lassen, was Gott für dich empfindet. Nein, Gottesdienst ist nicht vor allem das, was wir tun, es ist der hingebungsvolle Dienst dessen, der seinen Jüngern die Füße wusch. Nein, es bedarf nicht eines besonderen Plans für dein Leben; in jeder »Berufung« sollst du einfach Gott und deinen Nächsten lieben und dienen. Und so weiter – mehr verrate ich hier noch nicht, denn der geneigte Leser soll das alles ja noch selbst entdecken (und vielleicht auch mit dem eigenen Hauskreis mal Kapitel für Kapitel durcharbeiten). Es lohnt sich!
Also, liebe Leserin und lieber Leser, keine leichte Kost, aber eine wertvolle und tröstliche, im guten Sinne aufbauende Lektüre liegt vor Ihnen. Packen wir es an!
Prof. Dr. Michael Herbst
Weitenhagen, den 25. Februar 2020
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EINLEITUNG
Wenn Gott nicht hält, was er verspricht
Ich gehe einkaufen und treffe unerwartet einen alten Bekannten. Beide schieben wir unsere Einkaufswagen zwischen den hochaufragenden Regalreihen des Supermarktes hindurch und gehen in diesen kleinen Gassen in Deckung wie in einem Schützengraben.
Wir haben uns seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Doch nachdem ich das dritte Mal aus der Ferne hingeschaut habe, bin ich mir ganz sicher, dass er es ist, selbst wenn sein Gesicht heute in mancherlei Hinsicht anders aussieht. Der Bart war damals noch nicht da. Meistens freue ich mich auf ein solches Wiedersehen mit einem Weggefährten aus längst vergangenen Tagen. Ich mag diese kurzen, herzlichen Gespräche und das angenehm nostalgische Gefühl, das hinterher zurückbleibt, während ich die Einkäufe im Auto verstaue und nach Hause fahre.
Doch mit ihm ist es anders. Ich flüchte mich mit dem Einkaufswagen hinter das nächste Regal, verschwinde so aus seinem Sichtfeld und überlege, was ich nun machen soll. Ich entscheide mich, so zu tun, als hätte ich ihn nicht gesehen, und gleichzeitig zwischen meinem und seinem Wagen den nötigen gesprächsverhindernden Sicherheitsabstand zu wahren. Die Strategie ist erfolgreich.
Ein paar Augenblicke später dämmert mir jedoch, dass er es wahrscheinlich genauso handhabt wie ich. Er hätte genug Gelegenheiten gehabt, mich wiederzuerkennen. Wahrscheinlich weiß er sogar, dass ich ihn erkannt habe und genauso wie er dieses peinlich berührte Wiedersehen vermeiden möchte. So wird dieser Supermarkt zum Spielfeld für unseren kleinen Ausweich-Wettkampf, den wir am Ende beide auf unsere Weise gewinnen.
Ich führe diesen etwas unrühmlichen Tanz besonders häufig dann auf, wenn es sich bei dem Gegenüber um jemanden aus der zahlreichen Riege der Ex-Christen handelt. Es sind Leute, die inzwischen zu den Alumni 1unserer Gemeinden gehören und ihre aktive Zeit mit Gott längst hinter sich haben. Sie gehören zu den Ehemaligen. Sie haben sich vom Glauben Stück um Stück verabschiedet. Jesus ist heute nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit, eine Reminiszenz an einen anderen Lebensabschnitt.
Ich habe das Gefühl, dass sie jemandem wie mir besonders häufig ausweichen. Intuitiv. Denn als Pastor stehe ich für das Glaubensthema, mit dem sie bewusst oder unbewusst gebrochen haben. Wenn man sich mit mir unterhält, steht die Glaubensfrage irgendwie mit im Raum, und das ist für einen Ehemaligen verständlicherweise selten angenehm. Auch für mich sind diese Begegnungen auf ihre eigene Art schmerzhaft. Denn sie führen mir vor Augen, was mir oft auszublenden gelingt: Es gibt so viele Menschen, deren Lebensgeschichten fröhliche und begeisterte Kapitel mit Jesus enthalten. Doch nun können sie mit meinem Herrn und Heiland nichts mehr anfangen.
Wahrscheinlich gehörst du nicht zu diesem Alumni-Klub des Christentums. Ansonsten hieltest du dieses Buch wohl nicht in deinen Händen. Aber vielleicht brauchst du nicht viel Fantasie, um dich in einigen Monaten oder Jahren ebenfalls im Kreise dieser Ehemaligen zu sehen. Möglicherweise stehst du kurz davor, den Glauben zu verlassen, und spielst mit dem Gedanken, Jesus Lebewohl zu sagen. Oder es ist bei dir weit weniger dramatisch, aber du kannst dich hin und wieder des Eindrucks nicht erwehren, dass dein Glaube ins Wanken geraten ist. Vielleicht fragst du dich: »Was ist, wenn ich nicht fühle, dass Gott da ist? Was ist, wenn ich nicht spüren kann, dass seine Versprechen wahr sind?«
Dein Glaube trägt nicht mehr – das kann ganz verschiedene Gründe haben. So wie ich es sehe, sind es vor allem sechs Bereiche, in denen der Frust besonders tief sitzen kann. Über sie schreibe ich auf den kommenden Seiten. Vielleicht spricht dich eines dieser Themen besonders an.
Möglicherweise fragst du dich, ob es sich noch lohnt, an Gott dranzubleiben. Manchmal kommt man im Glaubensleben an den Punkt, wo man einfach keine Kraft mehr hat, den nächsten Schritt zu gehen. Es gibt Momente, in denen keine Energie mehr da ist, um an Jesus dranzubleiben.
Ich denke, dass es sich dennoch lohnt. Aber es sieht womöglich anders aus als gedacht und kostet hoffentlich weit weniger Kraft als befürchtet. Vielleicht magst du dem eine Chance geben.
Lass uns gemeinsam auf die Reise gehen.
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1 GEFÜHL
Wenn ich Gottes Gegenwart nicht spüre
Lang ist es her.
Dabei hat Christina bis heute alle Einzelheiten vor Augen. Sie erinnert sich genau, wie es damals mit ihr und Gott angefangen hat.
Es war wenige Wochen nach ihrem 16. Geburtstag, als sie den Flyer für eine christliche Sommerfreizeit ungläubig in ihren Händen hielt, unaufhörlich auf diesen starrte und tatsächlich überlegte, ob das etwas für sie sein könnte. Sonderlich religiös war sie nie gewesen. Allerdings würde ihr halber Freundeskreis mit dabei sein. Und da die Stimmung in ihrem Elternhaus täglich angespannter wurde, ertappte sie sich dabei, wie sie ernsthaft in Betracht zog, zwei Wochen ihrer kostbaren Sommerferien in dieses große Unbekannte zu investieren.
Sie tat es. Christina fuhr mit.
Zu ihrer Überraschung wurden diese Tage von einer besonderen Atmosphäre begleitet. Ein warmes Gefühl lag in der Luft, das sich kaum beschreiben, aber allezeit spüren ließ. Es gab eine Gemeinschaft, die so anders war als alles, was sie aus der Schule kannte. Intensive Gespräche, von Seele zu Seele, bis tief in die Nacht. Zeit für lange gemeinsame Waldspaziergänge mit jungen Frauen, die Christina bis heute gute Freundinnen nennen darf. Dort, umgeben von einem Duft nach Regen und Nadelholz, merkte sie zum ersten Mal in ihrem Leben: Ich werde wirklich verstanden.
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