Malte Schiefer
Der Untergang Ijarias
Band I
Die Schatten erheben sich
EDITION
TEESTÜBCHEN
TRITHEMIUS
Für Sabrina
Ohne Dich wäre das Buch
nie fertig geworden.
Elno
Das Wasser im Holzfass war kalt und still. In ihm spiegelte sich dunkel der wolkenlose Abendhimmel. Ein Vogel krächzte in der Ferne und sein Schrei hallte einsam und traurig über den Acker.
Das Wasser im Fass begann sich zu kräuseln. Kleine, durch Erschütterungen ausgelöste Wellen liefen zum Rand des Fasses und von dort wieder zurück in die Mitte. Mit der Ruhe war es vorbei. In das Stampfen schwerer Stiefel mischten sich unterdrückte Klagelaute.
Plötzlich spiegelte sich im Wasser das schmutzige Gesicht eines Jungen von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren. Er hatte zotteliges, schwarzes Haar. Seine Augen waren weit aufgerissen und der Mund war zum Schrei geöffnet.
»Nicht!«, rief er, dann durchbrach sein Gesicht klatschend die Wasseroberfläche. Blasen stiegen auf. Links und rechts spritzte Wasser über den Rand, als der Junge mit ruckartigen Bewegungen versuchte freizukommen. Doch eine Hand hielt ihn an den Haaren, drückte ihn hinunter und ließ ihn nicht los.
Die Hand gehörte einem Mann. Der Mann war groß und breit und auch sein Gesicht war schmutzig. Sein Haar war schwarz. Er hatte dicke Augenbrauen und einen ungepflegten Bart. Die Augen hatte er zusammengekniffen und seine Lippen aufeinander gepresst.
Er war stark, denn während die Bewegungen des Jungen immer heftiger wurden und er alles versuchte, um sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, blieb dieser fast unbewegt, außer wenn er den Kopf des Jungen noch tiefer ins Wasser drückte.
Ruckartig riss der Mann den Kopf des Jungen nach oben. Der Junge spuckte Wasser, hustete und schnappte nach Luft. Erfolglos versuchte er, den Griff des Mannes um seine Haare zu lösen.
Grob drehte der Mann den Jungen zu sich um. In seinem Blick lagen Zorn und Hass.
»Wo ist er?«, brüllte er den Jungen an, während er ihn hin und her schüttelte. Der Junge holte Luft, um eine Antwort zu geben, doch bevor er dazu kam, drückte der Mann den Kopf des Jungen erneut unter Wasser.
Als er ihn abermals nach oben zog, spuckte der Junge mehr Wasser als zuvor. Der Mann zerrte ihn auf die Beine. Als er jetzt sprach, war seine Stimme fast ruhig und er betonte jedes Wort.
»Wo ist mein Wein?«
»Ich weiß es nicht!«, krächzte der Junge. Immer noch versuchte er sich aus dem Griff des Mannes zu befreien.
»Ach, nein?« Der Mann presste die Hand, mit der er immer noch die Haare des Jungen festhielt, so stark zusammen, dass seine Köchel hervortraten. Er zog den Jungen auf die Zehenspitzen.
»Mehr fällt dir nicht dazu ein? Du hast ihn ganz sicher nicht selbst getrunken? Dann bist du wohl noch genauso durstig wie ich.«
Er lockerte seinen Griff und ließ den Jungen wieder zurück auf die Füße. Der Junge gab einen erschöpften Seufzer von sich und löste den Griff um den Arm des Mannes.
Darauf schien dieser nur gewartet zu haben. Erneut riss er den Jungen zurück zum Fass und drückte ihn in das Wasser, riss ihn wieder heraus, drückte ihn wieder hinein.
»Dir wird schon noch einfallen, wo mein Wein hingekommen ist!«, brüllte der Mann.
»Hier, hier! Er ist hier!«
Das war die Stimme eines Mädchens. Ruckartig drehte der Mann den Kopf. Ein letztes Mal stieß er den Jungen ins Wasser, dann ließ er ihn los. Der Junge verlor das Gleichgewicht. Verzweifelt versuchte er, sich am Fass festzuhalten.
Als der Mann das sah, lachte er und versetzte dem Fass einen kräftigen Tritt. Es neigte sich gefährlich zur Seite. Ein zweites Mal trat der Mann gegen das Fass. Einen Moment verweilte es träge in der Schwebe, dann kippte es. Der Junge schrie, als das Fass beinahe auf ihn stürzte, zusammen mit ihm auf den Boden aufschlug und sich Wasser über ihn ergoss. Wimmernd blieb er liegen.
Der Mann wandte sich wieder zu dem Mädchen. Es war etwas kleiner als der Junge. Ihr Haar war dreckig, doch zwischen dem Schmutz sah man, dass es blond war. Das Mädchen zitterte. In den Händen hielt es einen verschlossenen Krug, den es dem Mann entgegenstreckte.
Der Mann packte das Mädchen im Gesicht und drückte die Wangen zusammen.
»Wo hast du das her?«, fragte er.
Seine schmierigen Finger hinterließen schmutzige Streifen auf ihrem Gesicht.
»Es stand auf dem Regal, es stand im Schatten, man konnte es nicht sehen, es stand auf dem Regal!«, sprudelte es aus dem Mädchen hervor. Ihre Stimme war hoch und zittrig.
Mit der freien Hand nahm der Mann den Krug, mit der anderen stieß er das Mädchen unsanft zur Seite. Dann wandte er sich zu der Hütte, aus der das Mädchen gekommen war, und ging hinein. Mit einem Krachen schlug er die Tür hinter sich zu.
Das Mädchen holte zitternd Luft. Dann lief es zu dem Jungen hinüber, der zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Er weinte und hustete.
Das Mädchen blieb neben ihm stehen. Sie sah zum Wasserfass und dann zur Hütte. Nervös verlagerte sie das Gewicht von einem Bein auf das andere.
»Elno?«, fragte sie. »Kannst du aufstehen? Wir müssen das Fass hinstellen, kannst du aufstehen?«
Elno sah zur Hütte hinüber. Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und erhob sich.
Unter großer Anstrengung richteten sie das Fass wieder auf. Als sie es geschafft hatten, lehnte sich Elno keuchend an die Hütte und sackte erschöpft an der hölzernen Wand hinunter. Das Mädchen, das sich bereits wieder der Tür zugewandt hatte, drehte sich um.
»Kommst du nicht mit rein?«, fragte sie nervös.
»Ich schlafe draußen«, krächzte Elno.
Das Mädchen blickte ihn an und nach einer Weile nickte es. Mit langsamen Schritten ging sie zur Tür, öffnete sie und ging hinein.
Es war nicht die Dunkelheit, die Elno fürchtete, wenn er die Nacht draußen vor der Hütte verbrachte. Das tat er oft. Hielt er sich in der Hütte auf, so kam er seinem Vater Bolg in die Quere und Bolg mochte es nicht, wenn man ihm in die Quere kam. Das zu vermeiden war unmöglich, denn die Hütte war klein. Sie bestand aus zwei Räumen, dem Schlafzimmer von Ana und Bolg und der Küche mit dem Esstisch, neben dem sich das schlichte Nachtlager von Nela und Elno befand. In das Zimmer der Eltern durften sie nicht und so blieb ihnen nur die Küche. Oft saß hier Bolg am Tisch und manchmal auch Ana.
Dann stritten sie häufig, während Bolg trank. War Ana im Schlafzimmer, dann trank Bolg, ohne sich zu streiten. Das war auch nicht besser, denn wenn er schlechte Laune hatte, stand er auf und brüllte Elno an und manchmal schlug oder trat er ihn sogar.
Abends war es am schlimmsten, wenn Bolgs Rausch am stärksten und seine Laune am schlechtesten war. Dann war es besser, hier draußen zu sein, allein in der Dunkelheit.
Aber weder Einsamkeit noch Dunkelheit machten ihm die Nächte unerträglich. Er mochte die Dunkelheit. Die Schreie der wenigen Tiere, die nachts ihren Weg über den schmutzigen und fruchtlosen Acker fanden, der ihr Haus umgab, machten ihm keine Angst. Früher hatte er sich vor ihnen gefürchtet, aber nachdem er sie viele Male gehört hatte, verloren sie ihren Schrecken. Er hatte sogar gelernt, sie auseinanderzuhalten. Den Ruf einer Eule, den Schrei einer Katze oder das Bellen eines Fuchses.
Was ihm Angst machte, waren die Geräusche, die nachts aus der Hütte kamen. Manchmal waren sie leise und gedämpft, mal waren sie lauter. Da war der rasselnde und keuchende Atem Bolgs, den er hörte, oder Ana, die leise und unterdrückte Schreie von sich gab.
Und dann gab es noch einen Laut, der sein Blut jedes Mal zu Eis werden ließ. Es war das leise Weinen Nelas, das er durch die hölzerne Hüttenwand hören konnte, eine Weile, nachdem Bolgs rasselnder Atem verschwunden war.
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