In solchen Momenten kroch Elno zu der Stelle der Hüttenwand, von der er wusste, dass Nela auf der anderen Seite lag, presste seine dürre Hand gegen das modrige Holz und stellte sich vor, auf der anderen Seite würde Nela dasselbe tun.
Heute war eine dieser Nächte. Ana und Bolg hatten sich schlimm gestritten und etwas war im Innern der Hütte zu Bruch gegangen. Elno hatte mit zugehaltenen Ohren an der Wand gesessen und gewartet, bis der Streit vorüber war. Dann hatte er es gehört, das leise Weinen, und nun saß er da und hielt seine Hand an das Holz, mit einem schweren Kloß im Hals und dem ständigen Gefühl, schlucken zu müssen.
Wie sehr er sich wünschte, Nela könnte die Nächte mit ihm draußen verbringen. Ana hatte Nela einige Male hinausgeworfen, aber Bolg gestattete es ihr nicht. Er zog sie an den Haaren in die Hütte, wenn sie zu lange draußen blieb. Elno wusste nicht, was dann in der Hütte geschah, aber nach einer Weile hatte Nela nicht mehr versucht, draußen zu bleiben.
Jetzt wartete Elno, bis Nela aufgehört hatte zu weinen, dann schlief auch er ein.
Als er am nächsten Morgen erwachte, lagen noch die Schleier der Nacht über dem Acker rund um ihre Hütte. Elno rieb sich die Augen. Er setzte sich auf und lauschte. War da ein Geräusch gewesen? Tatsächlich, im Innern der Hütte konnte er Schritte hören. Leise kroch er vor, sodass er um die Ecke linsen und die Eingangstür sehen konnte. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür geöffnet und Bolg trat heraus. Elnos Herz schlug schneller. Wenn Bolg früh aufstand, bedeutete dies meistens, dass er auf einer nahe gelegenen Baustelle arbeiten ging. Das war gut, denn sobald Bolg weg war, würde Elno in die Hütte gehen können.
Bolg schien zu spüren, dass er beobachtet wurde. Er hielt inne und kurz darauf drehte er sich zu Elno. Als er ihn entdeckte, deutete er eine ruckartige Bewegung in Elnos Richtung an und Elno zog sich voller Schrecken hinter die Ecke zurück. Er hörte, wie Bolg lachte, dann Schritte, die sich von der Hütte entfernten und in der Ferne leiser wurden.
Elno wartete eine Weile, dann kroch er wieder nach vorn. Bolg war weit und breit nicht zu sehen, also stand Elno auf und schlich sich in die Hütte.
Im Inneren war die Luft stickig und auch wenn draußen langsam die Sonne aufging, war es dunkel und still. Vorsichtig schloss Elno die Tür hinter sich. Er wollte Nela nicht wecken. Wenn sie noch schlief, würde er sich ein wenig zu ihr setzen und ihr beim Schlafen zusehen.
Kaum hatte er sich von der Tür abgewandt, sah er, dass noch jemand im Raum war. Am Tisch saß Ana. Mit glasigem Blick schaute sie auf die schlafende Nela hinab, die sich unter einem alten Mantel zusammengerollt hatte.
Elnos Mutter hatte zerzaustes Haar und ihr Gesicht war fahl und faltig. Über ihrem dürren Leib trug sie ein schmutziges Nachthemd, das an vielen Stellen aufgerissen und zerschlissen war. Als sie Elno bemerkte, wandte sie den Blick von Nela ab.
»Wo warst du?«, fragte sie. Ihre Stimme war rau wie seine eigene und sie klang sehr ungehalten.
»Ich war draußen«, krächzte Elno. Er war auf der Hut. Zwar fürchtete er Ana nicht so sehr wie Bolg, aber auch sie konnte sehr gemein sein und er vermied es, sie zu verärgern. Es war schwer abzuschätzen, wieso Ana sauer auf ihn wurde.
»Wieso hast du nicht bei deiner süßen Schwester geschlafen?«, fragte Ana laut. »Gefällt sie dir nicht?«
Elno wusste, dass er jetzt sehr vorsichtig sein musste. Jedes falsche Wort konnte Ana noch wütender machen. Er versuchte es mit einer Ausrede.
»Ich bin draußen eingeschlafen!«
Ana sah ihn verächtlich an.
»Du bist ein Nichtsnutz!«, sagte sie. »Genau wie deine Schwester.«
Einen Moment sah sie schweigend auf Nela hinab, dann stand sie auf und stieß ihren nackten Fuß unsanft in Nelas Seite. Nela gab einen Schrei von sich. Ana holte aus, um Nela ein weiteres Mal zu treten. Nela rappelte sich auf und versuchte, Anas Tritt zu entkommen, aber sie schaffte es nicht. Ana traf sie am Bein und Nela stürzte.
»Nicht!«, wollte Elno rufen, aber seine Stimme war ein geräuschloses Flüstern, das er selbst kaum hören konnte.
Nela gelang es, an Ana vorbeizukommen und unter den Tisch zu kriechen. Dort kauerte sie sich zusammen und wimmerte. Ana schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Nela schrie und presste sich die Hände auf die Ohren. Ana lachte bitter. Noch einmal versuchte sie Nela unter dem Tisch zu treten. Als sie es nicht schaffte, raffte sie ihr Schlafgewand zusammen und stapfte ins Schlafzimmer.
Nela begann zu weinen. Sie hatte ihre Beine an ihren Leib gezogen und rieb sich mit den Händen über die Knie.
Elno lief um den Tisch herum, hob den alten Mantel auf, den Nela als Decke benutzte, und kroch zu Nela unter den Tisch. Vorsichtig legte er den Mantel um ihre zitternden Schultern und nahm sie in den Arm. So saßen sie eine Weile, bis Ana aus dem Schlafzimmer zurückkam. Sie hatte ihre Arbeitskleidung angezogen. Vermutlich würde auch sie auf dem Feld eines benachbarten Bauern aushelfen. Sie verließ die Hütte, nur um kurz darauf wieder zurückzukehren. Es schepperte, als sie einen alten Wassereimer unter den Tisch warf. Elno spürte, wie Nela nach seiner Hand griff.
»Du hast gestern alles Wasser verschüttet. Hol neues!«, sagte seine Mutter.
Krachend wurde die Tür zugeworfen, dann wurde es still.
»Wir müssen los«, sagte Nela nach einer Weile.
»Ja!«, krächzte Elno.
Bis zum Bach war es weit und der Eimer musste viele Male hin und her getragen werden. Gemeinsam krochen sie unter dem Tisch hervor. Elno hob den Eimer auf, dann machten sie sich auf den Weg.
Als Ana am frühen Abend zurückkehrte, war ihre Laune schlecht. Elno und Nela verzogen sich in die hintere Ecke der Küche. Dort war zwischen der Außenwand und einem alten Regal eine Lücke, in der sie sich verstecken konnten. Ana begann die Küche nach irgendetwas zu durchsuchen und räumte laut in den Schränken herum.
Elno ahnte, dass es am Abend wieder Streit geben würde. Gerade überlegte er, ob es das Beste wäre, die Hütte schon jetzt zu verlassen, als Bolg nach Hause kam. Sofort war ihm die schlechte Laune anzusehen. Er warf einen missmutigen Blick auf Ana und Elno und setzte sich dann an den leeren Tisch.
»Wo ist das Essen?«, fragte er gereizt.
»Es ist nichts da!«, antwortete Ana. »Bauer Meg hat gesagt, er hat nichts mehr für mich!«
Bolg sah Ana böse an.
»Und Bauer Ganven? Hast du auch bei ihm gefragt?«
Ana schüttelte den Kopf.
»Wie bitte soll ich das machen? Es dauert schon lange genug, zu Meg zu laufen und Ganvens Hof liegt in der anderen Richtung!«
Bolg schnaubte.
»Und was hast du gemacht, wenn Meg keine Arbeit für dich hatte? Hast du den ganzen Tag auf der faulen Haut gelegen? Oder hast du dich mit einem seiner Stallburschen vergnügt?«
Ana spuckte auf den Boden der Hütte.
»Als ob das ein Vergnügen wäre«, sagte sie und blickte Bolg finster an. »Und was ist mit dir? Warum hast du nichts zu essen mitgebracht? Du hast doch wohl etwas verdient, oder nicht?«
Bolg schüttelte den Kopf.
»Das ist mein Geld«, sagte er.
Ana lachte verbittert.
»Ach, das ist dein Geld? Und was machst du damit? Es versaufen!«
Bolg nickte.
»Genau das werde ich jetzt tun.«
»Nein!«
Ana war aufgestanden und stellte sich Bolg in den Weg.
»Geh beiseite!«, sagte Bolg mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme. Ana blieb stehen.
»Erst, wenn du mir meinen Teil des Geldes gegeben hast! Ich muss dir schließlich auch immer was abgeben!«, sagte sie aufgebracht. Einen Moment war es totenstill. Dann trat Bolg fast gemächlich auf Ana zu, packte sie an den Haaren und zerrte sie zu sich heran. Ana schrie auf.
Elno spürte, wie Nela sich fester an ihn drückte und ihr Gesicht in seiner Seite vergrub. Er nahm sie in den Arm, auch wenn er selbst am liebsten fortgerannt wäre. Stumm beobachtete er, wie Bolg Ana grob zu Boden stieß und nach dem Besen griff, der neben der Tür stand. Er zerbrach den Stil über seinem Bein. Den Teil des Besens, an den Elno und Nela erst kürzlich neuen Reisig gebunden hatten, um die Hütte zu fegen, warf er achtlos beiseite. Den anderen nahm er in die rechte Hand und ließ ihn durch die Luft sausen. Mit einem dumpfen Klatschen traf er die am Boden liegende Ana. Ana schrie, hielt schützend einen Arm über sich und versuchte wegzukriechen, schaffte es aber nicht. Elno schloss die Augen und presste seine Lider so fest zusammen, wie er nur konnte.
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