Jorian wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab herauszufinden, was für ein Buch es war, doch irgendetwas hielt ihn davon ab, es zu öffnen. Stattdessen schob er es beiseite und zog ein Blatt Papier hervor, nahm ein Tintenfässchen aus der Schublade und holte seine restlichen Arbeitsmaterialien aus seiner Tasche. Die ihm vertraute Tätigkeit half, die Gedanken aus dem Kopf zu bekommen, die auf ihn einströmten und seine Arbeit und vor allem auch das Verständnis des Textes nur erschweren würden. Erst als er alles vorbereitet hatte, nahm er das Buch erneut zur Hand. Einen Moment zögerte er noch, dann öffnete er den ledernen Deckel.
Jorian war sich nicht sicher, ob es an seiner Anspannung lag, oder an den erwartungsvollen Gedanken, die er sich gemacht hatte, aber als er den Buchdeckel anhob, hatte er den Eindruck, ein entferntes Geräusch zu hören. Es klang eigentlich nach nichts Besonderem und sicher hatte er es sich eingebildet, aber es hatte sich angehört, als ob jemand im Nebenzimmer geseufzt hätte. Unwillkürlich drehte er sich um, aber natürlich war niemand da. Das Haus war ruhig und still wie zuvor. Oder hatte sich doch etwas geändert? War das Zimmer nicht mit einem Mal irgendwie dunkler als zuvor?
Jorian schüttelte sich und musste grinsen. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der sich vor einer Spukgeschichte gruselte. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah das Grün der Blätter im Licht der Sonne. Dann wandte er sich wieder dem Buch zu.
Die ersten Seiten waren seltsamerweise nicht beschrieben. Jorian blätterte vor, bis auf einer Seite so etwas wie eine Widmung auftauchte. Sie war mit dünner Feder und zittriger Hand geschrieben.
Hem gretjo vis, Marli, in slendet Mol
Jorian überlegte, ob er die Widmung ebenfalls kopieren sollte und entschied sich dafür. Er begann damit, eine dünne Linie auf das vor ihm liegende Blatt zu ziehen. Dann wählte er eine Feder aus, deren Spitze in etwa so dünn war wie die Schrift der Widmung. Der Verfasser schien unkonzentriert gewesen zu sein, als er sie schrieb, oder aus anderen Gründen zittrig. Jorian beschloss, sie sorgfältiger aufzuschreiben, als der Verfasser es getan hatte. Er tunkte seine Feder in schwarze Tinte und schrieb den Satz nieder. Dann legte er die Feder wieder beiseite. ›Ich grüße dich, Marli, ein letztes Mal‹ war die Übersetzung, soviel verstand er. Eine eigentümliche Widmung, fand Jorian, es klang vielmehr wie ein Abschiedsgruß. Er zuckte mit den Schultern, legte das frisch beschriebene Blatt beiseite, nahm sich ein neues und blätterte die Seite um und stieß einen Seufzer aus. Auf der nächsten Seite begann der eigentliche Text. Er war schmucklos, was zwar nicht schön aussah, aber erst einmal weniger Arbeit bedeutete. Auch wirkte er weniger unsicher geschrieben als die Widmung, dafür waren die Buchstaben sehr klein und der Abstand zwischen den Zeilen sehr gering. Er zählte die Zeilen und las zweimal über den Text, um sich ein Bild davon zu machen, was er vor sich hatte. Dabei merkte er, dass sein Verständnis der alten Sprache doch viel schlechter war, als er es gedacht hatte. Er verstand nur wenig und wenn er auch nach der Widmung noch gedacht hatte, er könne das Buch einfach so herunterlesen, so wurde er nun eines Besseren belehrt. Die Art, wie der Text geschrieben war, machte es zusätzlich schwierig und anstrengend. Er wusste nicht genau, woran es lag, aber sein Blick sprang immer wieder zwischen den Zeilen hin und her. Vorsichtig blätterte er im Buch vor und ließ dann schneller werdend die Seiten durch seine Finger blättern. Was er sah, gefiel ihm nicht.
Das gesamte Buch war in der gleichen Art und Weise geschrieben, nur dass die Qualität der Handschrift weiter hinten noch mehr abzunehmen schien und auf den letzten Seiten schon stark dem zittrigen Ausdruck der vorderen Widmung glich. Auch gab es im Buch einige Zeichnungen. Sie zeigten einen Mann in verschiedenen Positionen und war mit Pfeilen kommentiert. Jorian betrachtete sie mit gemischten Gefühlen. Er konnte gut zeichnen, sie zu kopieren würde nicht schwer werden, zumal die Zeichnungen im Buch von jemandem gemacht worden waren, der es offensichtlich nicht gekonnt hatte. Sie wirkten recht funktional und wiesen keine Besonderheiten auf, abgesehen davon, dass der Zeichner dem Mann keine Augen gemalt hatte, oder vielmehr anstatt der Augen unpassend große dunkle Flecken gezeichnet hatte, die ihn wie eine Schauergestalt aussehen ließen. Er dachte an das Märchenbuch, dass seine Mutter ihm manchmal vorgelesen hatte und an die Trümmerzwerge und Grabkobolde, die darin vorgekommen waren. Abermals schüttelte er sich, blätterte zurück und las erneut die erste Seite.
Das Verständnis wurde zwar ein wenig besser, je öfter er die Seite las, aber gut war es immer noch nicht. Soviel er verstand, war das Buch in der Ich-Form geschrieben und schien eine Art Bericht oder so etwas wie eine Art nachträglich verfasstes Tagebuch zu sein. Es ging um einen Jungen, ein Haus, einen See. Den Zusammenhang konnte er sich nicht erschließen, auch wenn es ihm insgesamt kein erfreulicher Text zu sein schien. Er las Wörter wie ›Tjor‹ – Tod, ›halwag‹ – allein oder auch ›dunven‹ – dunkel. Schließlich begann er, die Seite zu kopieren. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort.
Es dauerte lange und als er mit der Seite fertig war, schmerzten ihm die Augen und der Kopf tat ihm weh. Draußen stand die Sonne bereits tief. Bäume und Gartenmauer warfen lange Schatten. Jorian stand auf, streckte sich, und beschloss, die Arbeit am nächsten Tag fortzusetzen. Sorgfältig räumte er seine Sachen zusammen, wickelte das Buch erneut in das braune Tuch ein und brachte es in sein Zimmer. Ein wenig wunderte er sich darüber selbst, denn normalerweise ließ er die Sachen, an denen er arbeitete, auf dem Tisch liegen, aber der irgendwie behagte ihm der Gedanke nicht. Nachdem er das Buch in dem kleinen Schrank neben seinem Bett verstaut hatte, ging er zurück und fühlte sich auf einmal gedrängt, die Abschrift ebenfalls wegzuschließen. Als er sie zum Buch in den Schrank geräumt und das kleine Türchen, das ihn schloss, verriegelte hatte, fühlte er sich zu seiner Verwunderung erleichtert.
Jorian ging in den Garten, wo Helma auf ihn wartete. Er half ihr auf die Beine und führte sie ein wenig im Garten herum. Wind kam auf und brachte einen angenehmen Geruch von Gewürzen mit sich und Jorian dachte an fremde und ferne Länder, die er bereisen könnte, wenn er irgendwann einmal das Haus seiner Mutter verlassen würde. Dann setzte er sich auf die Steinbank, die an der östlichen Mauer des Gartens stand und verbrachte den Rest des Tages draußen.
Er wusste nicht, woran es lag, aber als er später am Abend seiner Mutter eine gute Nacht wünschte und in sein Zimmer ging, um sich schlafen zu legen, beschlich ihn ein eigentümliches Gefühl. Er musste an das Buch in seinem Schrank denken und als er einschlief, hatte er höchst unruhige Träume.
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