Dem Mann lief der Schweiß den Nacken hinunter, wo er einen dunklen Fleck auf seinem Hemd hinterließ. Trotz allem schien ihm die Hitze nichts anzuhaben. Während seine Begleiter schweigend neben ihm her liefen, redete er ohne Unterlass.
Die zwei Frauen und der Mann neben ihm hörten ihm zu. Im Gegensatz zu ihm hatte jeder von ihnen noch ein Bündel aus Habseligkeiten auf dem Rücken und sie schnauften unter der schweren Last.
»Der obere Westmarkt ist etwas kleiner als der untere Westmarkt, soviel ist sicher«, erläuterte der pausbäckige Mann. »Aber das Verrückte ist«, er machte eine Pause und warf seinen Begleitern einen Blick aus leuchtenden Augen zu, »das Verrückte ist, dass es überhaupt einen oberen und unteren Westmarkt gibt! Und nicht nur das, es gibt auch zwei Ostmärkte und je einen Nord- und Südmarkt. Vom zentralen Markt ganz zu schweigen, könnt ihr euch das vorstellen? Jeder einzelne Markt ist größer als alle Märkte, die ihr je in eurem Leben gesehen habt, und der Zentralmarkt gleicht einer eigenen kleinen Stadt!«
»Das glaube ich dir einfach nicht!«, sagte eine der Frauen. Sie war dick und hatte von den dreien das größte Bündel zu tragen. Trotz allem lief sie nahezu aufrecht. »Ein Markt so groß wie eine Stadt! Wie welche Stadt möchte ich mal wissen. Vielleicht meinst du ja Himstadt?«
Die anderen lachten.
»Nein, nein, nicht wie Himstadt«, antwortete der pausbäckige Mann verärgert. »Ich meine eher wie Dalmerstedt.«
Die Frau schnaubte.
»Wie Dalmerstedt? Das glaube erst, wenn ich es gesehen habe.«
»Nun, das wirst du ja bald«, antwortete der Mann, »aber mach dich auf etwas gefasst! Ich sage dir eins …«. Er machte eine Pause, um Luft zu holen.
»Wer Ijaria noch nicht gesehen hat, der hat noch gar keine Stadt gesehen!«
Den letzten Satz sagte er nicht alleine. Vom hinteren Teil des Wagens wurden die Worte von einer leisen Stimme aufgegriffen und mitgesprochen. Über das Geratter des Wagens war sie kaum zu hören und sie klang viel weniger begeistert als die Stimme des pausbäckigen Mannes. Viel eher klang sie missmutig, schlecht gelaunt und sie gehörte einem Mädchen, das auf der hinteren Ladefläche des Karrens saß. Jetzt sprang sie ab und ließ den Wagen ein Stück vorfahren, bis die Gruppe vor dem Karren außer Hörweite war. Dann reihte sie sich ein in den Tross aus Wagen und Leuten.
Das Mädchen war klein. Tatsächlich war sie schon 16 Jahre alt, aber die meisten, die sie anschauten, hielten sie für jünger. Sie hatte auffällig wache und konzentrierte Augen, die jetzt unter zusammengezogenen Brauen dem Karren hinterherschauten. Ihr Haar war lang und braun und fiel ihr lose über die Schultern.
»Vinja!«
Das Mädchen drehte sich um und schaute zu einer alten Frau hinüber. Das Gesicht der Frau war faltig und ihre Lippen spröde. Als sie sprach, kam ihr Atem gepresst.
»Wärst du so gut und würdest mir mein Bündel abnehmen, nur für eine Weile?«
»Selbstverständlich«, antwortete Vinja. Die alte Frau blieb stehen und setzte unter großer Anstrengung ihren Rucksack ab. Einen Moment lang stand sie schwer atmend da, dann löste sie mit zittrigen Fingern einen Wasserschlauch vom Rucksack und trank daraus. Als sie fertig war, lächelte sie das Mädchen an.
»Das ist eigentlich keine Reise für eine alte Frau, nicht wahr?«
Vinja zuckte mit den Schultern, denn sie wollte die alte Frau nicht verletzen.
»Wieso fährst du nicht hinten auf unserem Wagen mit?«, fragte sie. »Ich laufe sowieso lieber.«
Die alte Frau machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich glaube nicht, dass deine Eltern das gutheißen würden.«
Vinja wollte widersprechen, doch dann nickte sie.
»Gut möglich!«
Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie sich den Rucksack der alten Frau auf den Rücken.
»Dann werde ich dich eben so entlasten.«
Die alte Frau dankte Vinja, dann setzten sie ihren Weg gemeinsam fort.
Es war jetzt zwei Wochen her, seit Vinja und ihre Eltern aus ihrer Heimatstadt Halwar aufgebrochen waren. In Halwar war ihre Gruppe noch überschaubar gewesen. Neben ihr und ihren Eltern waren es vor allem Reisende gewesen, die den weiten Weg nach Ijaria nicht alleine zurücklegen wollten. Nur ein paar hatten wie sie vor, in Ijaria zu bleiben und nicht mehr nach Halwar zurückzukehren. Der Stiefelflicker Hoger und seine Frau Disilde, die kräftige Mara und Unto, den sie hinter vorgehaltener Hand den Einfältigen nannten. Vinja glaubte, dass er niemals auf die Idee gekommen wäre, Halwar zu verlassen, wenn er nicht den unglaublichen Berichten ihres Vaters Belfonso gelauscht hätte.
Belfonso war vor einem Jahr nach Ijaria gereist. »Einmal im Leben muss man nach Ijaria«, hatte er immer wieder gesagt, aber niemand hatte geglaubt, dass er sich tatsächlich einmal aufmachen würde. Doch dann war er gegangen und lange Zeit nicht zurückgekehrt. Als er wieder auftauchte, hatten seine Augen jenen Glanz gehabt, die sie bis heute nicht verloren hatten. Neben allerlei Plunder brachte er auch den Entschluss mit nach Hause, dass seine Familie nach Ijaria ziehen sollte.
In Halwar hatten Vinjas Eltern eine Wäscherei betrieben. Die Gerätschaften und Einrichtungen, welche zum Waschen und zur Herstellung von Seife benötigt wurden, stapelten sich nun auf dem Karren, der von einem alten Ochsen gezogen wurde. Laut ihrem Vater gab es in ganz Ijaria keine einzige Wäscherei und das Reinigen der Kleidung würde von den Badern übernommen, die aber keine große Kunst darin besaßen. »Man stelle sich vor, keine einzige Wäscherei, in ganz Ijaria!«, hatte er ausgerufen. »Eine Stadt, so groß wie hundert Städte zusammen und keine einzige Wäscherei!«
In Halwar hatte es demgegenüber sogar zwei Wäschereien gegeben. Neben der Wäscherei von Vinjas Eltern war da noch die Wäscherei Askur. Askur war ein missmutiger Kerl und die Leute mochten ihn nicht. Daher waren für Vinjas Eltern die Geschäfte gut gelaufen. Doch Belfonso war trotz allem nicht zufrieden. Er wurde nicht müde zu wiederholen, dass in Ijaria viel mehr Geld zu verdienen war.
Es war Belfonso nicht schwergefallen, Vinjas Mutter Rigund von der Idee zu überzeugen. Die Aussicht auf ein Leben in Wohlstand hatte es ihr leicht gemacht, Belfonso seine lange Abwesenheit zu verzeihen.
Vinja hingegen hielt von der Idee nichts. Sie hatte viele Freunde in Halwar und der Gedanke an Ijaria verunsicherte sie. Halwar war zwar auch eine Stadt, aber Ijaria schien ihr um ein Vielfaches größer zu sein.
Was Vinja über ihren Umzug dachte, interessierte ihre Eltern nicht. Als die Entscheidung gefallen war, hatte sie sich damit anzufreunden. Ihre Eltern wischten alle Einwände fort und sagten, es würde ihr schon gefallen, wenn sie erst einmal dort seien.
Das Verhalten ihrer Eltern war für Vinja nichts Neues. Schon immer hatten sie Pläne für Vinja gemacht, ohne zu fragen, ob sie ihr gefielen. Am schlimmsten war es für Vinja, dass sie davon ausgingen, sie würde eines Tages die Wäscherei übernehmen. Das wollte Vinja nicht, aber alle Versuche, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, scheiterten.
Bis zum letzten Tag hatte Vinja gehofft, ihre Eltern würden sich noch einmal umentscheiden. Doch dann waren sie losgezogen und hinter ihnen war Halwar im Licht der aufgehenden Sonne immer kleiner geworden, während Vinja auf der Ecke des Karrens saß, die ihr Vater für sie ausgespart hatte. Er war der Meinung, dass sie nicht so viel laufen und erst recht nichts tragen könne. Eine Fehleinschätzung, wie Vinja fand.
Während ihrer Reise war ihre Gruppe stetig größer geworden. Andere hatten sich zu ihnen gesellt, um den Weg nach Ijaria im Schutze einer Gruppe zurückzulegen. In Stagweren waren sie auf drei Großfamilien getroffen, die ebenfalls ihr Glück in der Hauptstadt suchen wollten. Mittlerweile war ihre Gruppe auf fünfzig Personen angewachsen. Mit dabei waren Händler, Gaukler und Taugenichtse, die abends Lieder sangen und Geschichten erzählten. Aber auch einige Leute aus den Südlanden, einer weit entfernten Gegend, die, wie Vinja gehört hatte, nicht zum freien Königreich gehörte und wo die Leute eine andere Sprache hatten. Vinja verstand zwar nicht, worüber die Leute redeten, aber sie wirkten auf Vinja nicht gerade zufrieden und sie wurde den Eindruck nicht los, dass sie nicht gerade freiwillig unterwegs waren.
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