Xu brachte die Vorspeise und auch den Hauptgang so schnell, als hätte man in der Küche gar nicht erst auf ihre Bestellung gewartet, sondern angefangen zu kochen, sobald man sie aus ihrem Auto steigen sah.
Lange blieb sie nicht sitzen; sie konnte nicht damit umgehen, allein in einem Restaurant zu essen, fühlte sich beobachtet und bemitleidet und konnte es nicht lassen, sich vorzustellen, was die anderen Gäste dachten. Sie gab Xu ein Zeichen, ihr die Rechnung zu bringen, und trank die Cola aus. Xu kam sofort auf sie zu, das Kunstledermäppchen, in dem die Rechnung steckte, in der Hand. Er trug Ledersandaletten mit feinen Riemchen, seine Füße waren lang und schmal wie die Füße einer Frau, seine Zehennägel schneeweiß, als wären sie lackiert.
»Du gehört von tote Mann auf deine Insel?«
Xus Englisch klang, als machte er sich bewusst über die Sprache lustig. Es war Michael schwergefallen, sein Englisch nicht nachzuahmen.
»Ja«, sagte sie.
Warum erzählte sie Xu nicht, dass sie die Leiche gefunden hatte? Xu hob unmerklich das Kinn, gleichzeitig senkte er den Blick.
»Du ihn gekannt?«
Auf der Camden Street wurde gehupt, ein Automotor heulte auf, und für einen kurzen Moment war aggressive Rapmusik zu hören.
»Du ihn gekannt?«, fragte Xu noch einmal.
»Ja«, sagte Corinna nach kurzem Zögern, »flüchtig. Norman Dunbar.«
Dann erzählte sie ihm, wie sie seine Leiche in der Bucht der Shofestalls gefunden und die Polizei alarmiert hatte und in Rockland vernommen worden war. Xu hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen.
»Ich in Skowhegan in Fabrik gearbeitet, viele Jahre her. Norman Dunbar hat Fabrik gekauft.«
»Dann hast du ihn also auch gekannt?«
»Ich ihn nie gesehen.«
»Was für eine Fabrik war das?«
» Moosehead Paper .«
»Eine Papierfabrik?«
»Papierfabrik, ja. Am Kennebec River.«
»Norman Dunbar hat die Papierfabrik gekauft. Und dann?«
»Gekauft und kaputt gemacht.«
»Zerschlagen«, sagte sie.
»Kaputt gemacht. Moosehead Paper geschlossen. Keine Arbeit mehr für mich und andere in Skowhegan.«
»Wie lange ist das her, Xu?«
»Fünfundzwanzig Jahre.«
»Und danach bist du hierher nach Rockland gekommen?«
»Erst Nashua, New Hampshire, Restaurant von Onkel.«
»Und du hast Norman Dunbar auch hier in Maine nicht kennengelernt?«
»Nein. Zum Glück.«
»Du hast ihn nie gesehen?«
»Du mich verdächtigen?«
»Nein, Xu, natürlich nicht.«
»Das freut mich.«
»Ich stelle Fragen, mehr nicht.«
»Wie Polizistin«, sagte Xu und lächelte breit.
»Wie eine Polizistin, stimmt, Xu.«
»Aber ich muss zugeben, ich mich gefreut, als ich gehört habe, dass er tot ist. Du verstehen?«
Er sah sie mit unbewegter Miene an, legte das Mäppchen auf den Tisch und schob es in ihre Richtung.
»Ja, das verstehe ich, Xu. Es gibt ebenfalls Menschen, denen ich den Tod gewünscht habe.«
»Ich jetzt nicht fragen, ob diese Menschen noch leben. Ich muss arbeiten. Pass auf dich auf.«
»Danke, Xu.«
Er deutete eine Verbeugung an, legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie, dann verschwand er in der Küche. Corinna saß bereits am Steuer, als ihr auffiel, dass Xu sie nie zuvor berührt hatte.
Corinna erwachte und schaute instinktiv auf die An- zeige ihres Weckers. 3:37 Uhr. Was hatte sie geweckt? Sie spürte, dass etwas nicht stimmte, schwang die Beine aus dem Bett, gab sich einen Augenblick Zeit, um zu sich zu kommen, ließ sich dann zu Boden gleiten und kroch auf allen vieren auf den Treppenabsatz vor ihrem Schlafzimmer und lauschte, ob jemand im Haus war. Wie laut ihre Knöchel geknackt hatten! Sie atmete so leise wie möglich und vermied jede unnötige Bewegung. Nach einer Weile war sie sich ziemlich sicher, alleine im Haus zu sein. Sie kroch zum Fenster, hob vorsichtig den Kopf und spähte in den Garten hinunter. Sie brauchte nicht lange, bis sie den Mann entdeckte. Er stand etwas zu weit von der Garage entfernt, deswegen ragte seine Schulter aus dem Schatten, den sie auf die Wiese warf. Sie wartete mehrere Minuten, ob sich der Mann ihrem Cottage näherte, und als er sich nicht vom Fleck rührte, entschloss sie sich, ihn zu überraschen.
Sam, ein Ex-Navy-SEAL, hatte ihr in einem zweijährigen Kampf- und Survivalkurs in Lenzburg nicht nur beigebracht, dass ihre Hände tödliche Waffen waren, sondern auch, wie man geräuschlos ein Gebäude verließ oder betrat, mit der Dunkelheit verschmolz und sich unbemerkt durch die Nacht bewegte. »Deine Verteidigung beginnt mit dem Angriff des Gegners, nicht vorher. Achte auf seine Körpersprache. Achte auf seine Augen. Achte auf seinen Atem. Vertrau deinen Instinkten. Zögere nie.« Sams Lehrsätze, die er während der Trainingseinheiten wie ein Mantra wiederholt hatte, waren ihr meistens erst nach den Einsätzen wieder eingefallen, aber Corinna war überzeugt, dass sie insgeheim ihre Bewegungen steuerten und ihr halfen, einen Täter zu analysieren und zu überführen.
Der Mann im Schatten ihrer Garage ahnte ihre Gegenwart in seinem Rücken erst, als es zu spät war. Sie trat ihm hart in die rechte Kniekehle, beförderte ihn mit einem Stoß ins Kreuz auf die Erde und hockte sich auf ihn, das Knie zwischen seine Schulterblätter gepresst. Er unternahm nicht einmal den Versuch sich zu wehren, machte sich im Gegenteil schlaff und ergab sich.
»Muss. Mit. Dir. Reden«, japste er.
»Ray!«
Sie sprang auf die Beine und trat einen Schritt zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ray drehte sich auf den Rücken und blieb liegen, die Hände auf die Brust gepresst nach Atem ringend. Das Gras war feucht, der Himmel ein hohes Gewölbe, an dem kaum Sterne standen.
»Hast du nicht behauptet, du bist nicht mehr im Dienst?«, fragte er endlich mit gepresster Stimme.
»Bin ich auch nicht.«
»Dafür bist du ganz schön fit! Können wir reingehen?«
Corinna half ihm auf die Beine, schob ihn durch die Hintertür ins Haus und führte ihn ins dunkle Wohnzimmer. Er setzte sich erst aufs Sofa, als sie die restlichen Stoffrouleaus vor den Fenstern heruntergezogen und die Lampe auf dem Couchtisch angezündet hatte.
»Warum hast du nicht auf meine SMS reagiert?«
»Ich stecke in Schwierigkeiten.«
»Erzähl«, sagte sie.
»Dunbar.«
»Norman Dunbar? Dunbar ist tot.«
»Er hat mich erpresst. Und es wird nicht lange dauern, bis die Polizei das weiß.«
»Hast du ihn umgebracht?«
Ray stand auf, starrte sie empört an und ging auf die Wohnzimmertür zu. Dort blieb er stehen, machte eine wegwerfende Handbewegung und setzte sich wieder hin.
»Was dagegen, wenn ich rauche?«, fragte er.
»Allerdings. Hast du etwas mit seinem Tod zu tun oder nicht?«
»Nein! Er hat mich erpresst.«
»Willst du mir erzählen, womit?«
Ray schüttelte den Kopf und erklärte ihr, das könne er nicht, noch nicht, obwohl er ihr vertraue. »Hilfst du mir?«, fragte er.
»Wie soll ich dir helfen? Bin ich Privatdetektivin?«
Matt Dennison fiel ihr ein, der bei einem Sommerfest in Damariscotta zufällig neben Michael und ihr gesessen hatte. Er war Privatdetektiv. Sie hatten ihn in seinem Büro in Thomaston besucht: »Investigations. Background checks. Insurance claims. Missing persons and pets.« Über das Schild an seiner Tür hatten sie lange gespottet. Haustiere! Damals war sie noch im Dienst gewesen, und Matt hatte ihr angeboten, ihr zu helfen, wenn sie Unterstützung brauche, »von Kollege zu Kollege«.
»Finde raus, wer Dunbar umgebracht hat. Das würde mir zum Beispiel helfen.«
Traute sie Ray einen Mord zu? Er sah sie treuherzig an, die Hände auf den Knien. Sie kannte die Pose aus unzähligen Verhören im Vernehmungszimmer in Aarau und stand auf, um ihn nicht weiter ansehen zu müssen.
Читать дальше