Hanz Gutiérrez
Die Wiederentdeckung des WIR
Reflexionen über die Coronapandemie
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Hanz Gutiérrez Die Wiederentdeckung des WIR Reflexionen über die Coronapandemie Dieses ebook wurde erstellt bei
VORWORT
1: Liebe in der Zeit der Coronapandemie (Reflexionen basierend auf Liebe in der Zeit der Cholera von G. Garcia Màrquez)
2: Die Vorstellungskraft in der Zeit der Coronapandemie (Reflexionen basierend auf Das Dekameron von Giovanni Boccaccio
3: Fürsorge und Politik in der Zeit der Coronapandemie (Reflexionen basierend auf Antigone von Sophokles)
4: Rassismus, Politik und moralische Konflikte in der Zeit der Coronapandemie (Reflexionen basierend auf Nemesis von Philip Roth)
5: Schicksal, Angst und Vertrauen in der Zeit der Coronapandemie (Reflexionen basierend auf Die Pest von Albert Camus)
6: Vorhersehbarkeit und Kontingenz in der Zeit der Coronapandemie (Reflexion basierend auf Der Peloponnesische Krieg von Thukydides)
7: Chaos, Natur und Gott in der Zeit der Coronapandemie (Reflexion über De rerum natura von Lukrez)
8: Gott, unsere Zuflucht in der Zeit der Coronapandemie (Reflexionen über Psalm 61 von König David)
Impressum neobooks
Dieses Buch ist auch auf Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch erschienen.
© 2021 Hanz Gutiérrez, alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Werner E. Lange
Korrektorat: Erika Schultz
Über den Autor:
Hanz Gutiérrez, geb. 1960 in Peru, Doktor der Theologie (Universität Straßburg 1987), erster Doktorgrad (D.E.A.) der Philosophie (Universität Straßburg 1987), Doktor der Medizin (Universität Florenz 1999), Studienaufenthalte in Tübingen und Loma Linda (Kalifornien).
Er ist Kulturanalytiker und zur Zeit Dozent für Theologie, Ethik und Anthropologie an der Hochschule „Villa Aurora“ in Florenz. Er hat etwa 150 Zeitschriftenartikel verfasst und ist Co-Autor von sechs Büchern auf Italienisch über theologische und kirchliche Themen.
Gewidmet
Michael Kätzner in dankbarer Erinnerung
an eine alte kulturelle und musikalische Freundschaft,
Gunther Franke in der gemeinsamen und ständigen Suche,
uns und unsere Zeit besser zu verstehen,
und der italienischen Adventgemeinde in Bad Cannstatt
für ihre zeitlose Großzügigkeit
Dieses Buch basiert auf einer Artikelserie über die Coronapandemie, die zwischen März und Oktober 2020 in der Online-Ausgabe der Zeitschrift Spectrum erschienen ist, einer Veröffentlichung des US-amerikanischen „Adventist Forum“. Die Artikel enthalten kulturelle, soziale und politische Überlegungen zur Pandemie, die uns alle dazu veranlasst hat, einige unserer Aktivitäten, die bis vor Kurzem nicht aus unserem beruflichen und persönlichen Lebensstil wegzudenken waren, zu ändern oder sogar aufzugeben. Als Kulturanalytiker und Dozent für Theologie am Seminar „Villa Aurora“ in Florenz fühlte ich mich durch die Umstände fast gezwungen herauszufinden, was in den verschiedenen Phasen dieser Krise geschah. Daher auch die ursprünglich chronologische Form meiner Darstellung der Entwicklung der Pandemie (in dieser Ausgabe weitgehend weggelassen) und meiner sich daraus ergebenden Reflexionen auf der Grundlage von Werken der Weltliteratur.
Diese Reflexionen verkörpern auch eine spirituelle Sehnsucht – nicht nur, weil ich als Verfasser ein gläubiger Mensch bin, sondern auch, weil meine Überlegungen von der Wiederentdeckung einiger weitgehend verschwundener Begriffe berichten, die es pandemiebedingt wiederzufinden gilt.
Alle diese abhandengekommenen Begriffe – vor allem aber die Wirklichkeit, die sie bezeichnen – können mit der „Wiederentdeckung des Wir“ zusammengefasst werden. Daher auch der Titel dieses Buches. Aber dieses überraschend und fast widerstrebend gefundene „Wir“ ist nicht nur das moderne und synchrone (gleichzeitige) Wir einer Solidarität zwischen Völkern, die entdecken, dass sie auf demselben Planeten von demselben Feind bedroht werden – dem Covid-19-Virus und seinen Mutanten; dieses Wir ist auch das diachronische (d.h. historisch-vergleichende) Wir von Völkern, die vor uns gelebt haben und die wie wir am eigenen Leib erfahren haben, was es bedeutet, von einer Epidemie heimgesucht zu werden. Daher die Verknüpfung mit literarischen Werken der Vergangenheit, die auf unterschiedliche Weise und unter anderen Umständen das Gefühl von Verletzlichkeit und Angst vermitteln, von einer Gefahr überwältigt zu werden, die unsere Gewissheiten und unsere Bezugspunkte über den Haufen wirft. Die abschließenden Überlegungen gehen von Psalm 61 der Bibel aus und bieten eine pastorale Sichtweise, die uns Zuversicht in Zeiten von Bedrohungen gibt.
Hanz Gutiérrez
1: Liebe in der Zeit der Coronapandemie (Reflexionen basierend auf Liebe in der Zeit der Cholera von G. Garcia Màrquez)
Fermina und Florentino, die Hauptfiguren im Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez (1927–2014), verkörpern die belastbare und stabile Kraft der menschlichen Liebe. Sie hatten sich bereits als Jugendliche in den 1870er-Jahren in der kolumbianischen Hafenstadt Cartagena ineinander verliebt; doch diese platonische Beziehung wurde von Ferminas Vater beendet, weil er einen angesehenen Schwiegersohn haben wollte. Fermina heiratete schließlich einen Arzt. Nachdem der etwa 50 Jahre später nach einem Unfall verstorben ist, schreibt Florentino, der Fermina ewige Liebe geschworen hatte, Hunderte Briefe. Nach einer Dampferfahrt auf einem Fluss gibt sie seinem Werben nach.
Diese späte, unerwartete Liebe zwischen diesen 70-Jährigen blüht in einem Gebiet auf, das von der gefürchteten Choleraepidemie und verschiedenen Katastrophen heimgesucht wurde, die Kolumbien in den vergangenen 50 Jahren verwüstet haben. Eine institutionelle Krise, die Lockerung der sozialen Beziehungen, die zunehmende Armut, Korruption und politische Willkür haben die Stabilität eines Landes gefährdet, das in der Lage zu sein schien, seinen Bürgern eine beruhigende Kontinuität zu garantieren.
Parallel dazu sind die Flussufer, die einst bewaldet und mit einem herrlichen grünen Mantel bedeckt waren, durch schlechtes Wetter und Dürre einem langsamen, aber unaufhaltsamen Verfall erlegen – fast als wollten sie widerspiegeln, was unter den Menschen geschehen ist. Das Wasser hat sich zurückgezogen, und die Tierwelt, die sich sorglos am Flussufer ausgebreitet hatte, wurde vermindert und war gezwungen, in weniger lebensfeindliche Gebiete auszuwandern.
Doch inmitten der Überbleibsel der Natur und der Zivilisation finden Fermina und Florentino ihr spätes Glück und schaffen es, den Wunsch und das Streben nach Leben und Liebe lebendig zu erhalten. Die Liebe ist stärker als der Tod und hartnäckiger als die Zerstörung. Diejenigen, die diese Einstellung übernehmen und sich zu eigen machen, reagieren nicht nur angemessen und rechtzeitig auf die Bitten anderer, sondern schaffen es auch, sich den Antrieb und die Leidenschaft zu bewahren, die für das Überleben und ein besseres Leben notwendig sind. Die Zeit hat sich für beide als Feind und Freund zugleich erwiesen. Sie hat in den aufreibenden Ereignissen ihres Leben den Strom der Leidenschaft, den die Liebe anfangs bei den Verliebten ungestüm hervorruft, zwar verdünnt, ihn aber gleichzeitig auf die Probe gestellt, gestärkt und ihn in Richtung Kreativität und Treue gelenkt. Trotz widriger Umstände und der Brutalität der Geschichte, die manchmal ihren unbeugsamen und unerbittlichen Blick zeigt, konnte ihre Liebe schließlich aufblühen.
Читать дальше