Hanz Gutiérrez - Die Wiederentdeckung des WIR

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Acht Reflexionen über die Coronapandemie anhand von klassischer und zeitgenössischer Literatur. Der Autor stellt kulturelle, soziale und politische Überlegungen zur Pandemie an, setzt sie in Beziehung zu Werken der Weltliteratur, in der eine ähnliche Situation den Hintergrund bildet, und zieht daraus Schlussfolgerungen für uns persönlich und unsere Gesellschaft.
Es geht ihm dabei vor allem um einige Verhaltensweisen und Einstellungen, die in unserer Gesellschaft in den Hintergrund gedrängt wurden. Sie können mit der «Wiederentdeckung des Wir» zusammengefasst werden. Dabei ist nicht nur das synchrone «Wir» einer Solidarität zwischen Völkern gemeint, die entdecken, dass sie von demselben Feind bedroht werden, sondern auch das diachronische «Wir» von Völkern, die vor uns gelebt haben und die wie wir erfahren haben, was es bedeutet, von einer Epidemie heimgesucht zu werden. Daher die Verknüpfung mit literarischen Werken der Vergangenheit, die auf unterschiedliche Weise das Gefühl der Verletzlichkeit und Angst vermitteln, von einer Gefahr überwältigt zu werden, die unsere Lebensroutine und unsere Gewissheiten über den Haufen wirft.

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Aber in letzter Zeit macht sich auf in Europa ein weit verbreitetes Gefühl der Verhärtung nationaler Identitäten breit. Es ist paradox, dass in der Zeit, in der ein lange schlummernder Nationalstolz wiedererwacht und ein mit diskriminierenden Ideologien und Praktiken verknüpfter Narzissmus in Erscheinung tritt, ein alles veränderndes Virus auftaucht. Ein unbekanntes Virus, das Vorurteile und Verhaltensweisen in Frage stellt. Es kehrt sie ins Gegenteil und lässt uns plötzlich das Gefühl der Unzulänglichkeit und Ausgrenzung erleben, von dem wir dachten, dass es nur Migranten und Migrantinnen vorbehalten ist. Das Virus bringt uns unversehens in die Außenseiterrolle. Im Handumdrehen sind wir zu Diskriminierten, Ausgegrenzten, an der Grenze Aufgehaltenen geworden – zu Parias, die eine gefürchtete Krankheit in sich tragen. Alle Ehre und geschichtlicher Ruhm, alle Anhäufung von Genialität und Errungenschaften schmelzen in einem Augenblick dahin wie Wachs in der Sonne. Ganz gleich, wie weiß und intelligent, reich und kultiviert wir sind – plötzlich werden wir zu Verdächtigen. Es ist ein schreckliches Gefühl der Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit, das durch das wachsende Misstrauen im stigmatisierenden Blick der Menschen um uns herum hervorgerufen wird.

Nur wer Demut gelernt hat, kann die eigene Situation und die der anderen mit Einfühlungsvermögen verstehen. Wie der französische Ökonom Serge Latouche (geb. 1940) schon seit einiger Zeit sagt, sind die westlichen Gesellschaften zu selbstbezogen geworden und beachten keine Grenzen mehr, die jedoch jede Gesellschaft im Auge behalten sollte. Daher ist es für uns in Europa (nicht nur wegen des Coronavirus) dringlich, das Bewusstsein unserer Begrenzungen wiederzuerlangen, und zwar durch den noblen Prozess der Wiederaneignung einer Tugend – einer Tugend, die heute zu einer seltenen Haltung geworden ist: die kulturelle Demut.

2. Langsamkeit

Viele Menschen leben in hektischen Städten in unpersönlichen Konglomeraten. Der zweifelslose Nutzen und der materielle Wohlstand, den uns diese Art der Organisation des Lebens gebracht hat, kompensieren die erlittenen Verluste jedoch nicht. Wenn wir die Ergebnisse abwägen, zählen wir zynischerweise dazu bereits auch Vorteile, die es nicht mehr gibt. Und die unerwünschten Folgen sind nicht nur Einsamkeit und Verlassenheit. Unser veränderter Blick ist nicht mehr in der Lage, selbst die zugrundeliegenden Anomalien klar wahrzunehmen. Und vielleicht ist die grundlegendste Anomalie, die sogar als Tugend vermarktet wird, die Beschleunigung aller Vorgänge. Wir hören nicht auf zu eilen. Wir laufen ständig – wo auch immer und unabhängig vom Anlass. Die Eile in all ihren Formen und ihrer Steigerung deformiert die Menschen auch, weil körperliche Bewegung für uns trügerischerweise zu einer moralischen Pflicht geworden ist. Wie der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han (geb. 1959) sagt, haben die auf Produktivität und Konsum basierenden, übermäßig beschleunigten sozialen Systeme, in denen wir leben, unser Lebenselixier erschöpft und neutralisiert. Wir sind Gesellschaften ohne Lust am Leben geworden. Die Leidenschaft hat unsere Straßen und unsere Seelen verlassen. Wer hetzt und eilt, tötet die Neugier und die Leidenschaft.

Aber am Ende werden wir trotz unserer Erfolge langsamer. Es ist aber eine Verlangsamung, die uns von einem Virus aufgezwungen wird. Wir sind eine müde und erschöpfte Gesellschaft (eine Burnout-Society), die die Arbeit und sogar das Vergnügen als Drogen und Suchtmechanismen nutzt, um diese strukturelle Apathie abzuwehren.

Wir schaffen es nicht mehr zu leben , ohne etwas zu tun. Wir haben verlernt, uns auszuruhen. Wir haben den Wert der Langsamkeit vergessen. Und selbst wenn wir zu Hause bleiben (müssen), lässt uns die Arbeitsmentalität nicht los, die wie eine zweite Haut an uns haften bleibt. Zusammen mit der eigenen Familie friedlich zu Hause zu bleiben, ohne irgendetwas zu tun, und Zeit miteinander zu verbringen, die nicht produktiv ist, sondern das Vertrauen untereinander stärkt und uns gegenseitig bereichert, erscheint uns als ein Luxus, den wir nicht verdienen und den wir uns nicht leisten können. Aber wegen einer unvorhergesehenen Viruspandemie ändert sich plötzlich alles. Die Automatismen, die unsere Existenz regeln und sie vorprogrammieren und mechanisch machen, werden unterbrochen. Es kommt Panik auf – ein Gefühl der Leere.

Die Vergötterung einer konstanten und ständig wachsenden menschlichen Leistungserbringung wird entlarvt. Alles kann gestoppt werden, ohne dass etwas passiert – nichts von dem, was wir erwartet haben. Nun ist der Stopp gekommen; der Lockdown ist da. Die Liturgie unserer zwanghaften Handlungen kann tatsächlich jederzeit unterbrochen werden. Das Virus hat die Initiative übernommen. Es ist klüger geworden als wir. Es hat uns überrascht und nun wochenlang zu Hause eingesperrt. Alle Italiener müssen nun von Gesetzes wegen bis zum 3. April zu Hause bleiben. Wie werden wir mit einer Zeit umgehen, die für uns nur noch in Geldverdienen und Produktivität, in Bewegung und Reisen messbar ist? Werden wir die Zeit erkennen, die sich uns nun bietet, und sie auch anders erleben? Zum Beispiel weniger aggressiv?

3. Solidarität

In der heutigen Gesellschaft, in der wir leben, haben wir neben den unbestrittenen Vorteilen leider auch eine Verengung des Blicks geschaffen. Wir kümmern uns um das, was uns am nächsten ist, um unseren kleinen „Garten“, ohne uns um alles andere und um unseren Nächsten zu sorgen. Wir haben verlernt – wie der Soziologe Robert Bellah (1927–2013) es ausdrückte –, uns um das Gemeinwohl zu kümmern. Unsere Gesellschaft hat aufgehört, eine gute Gesellschaft zu sein. Eine gute Gesellschaft kann nur eine sein, die – ohne die Rechte und Privilegien des Einzelnen zu vernachlässigen – den Mut hat, soziale Bindungen und gemeinsame Initiativen und Träume aufzubauen.

Die Coronapandemie hat uns ganz plötzlich und auf unschöne Weise in einer anderen Realität erwachen lassen. Das Modell des mündigen und selbstständigen Bürgers ist ein Trugbild – eine kulturelle Lüge. Eine andere Botschaft klopft heute an unsere Tür: Niemand kann in Isolation überleben . Der einzige Ausweg führt über Gegenseitigkeit, Gemeinschaftsgefühl und das Bewusstsein, Teil von etwas Größerem zu sein.

Die vom Philosophen Charles Taylor (geb. 1931) kritisierte „Ethik der Authentizität“, die Selbsterfüllung, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung zum Ziel hat und uns nur zur Kohärenz, Ehrlichkeit und Loyalität lediglich uns selbst gegenüber drängt (ein heute weit verbreitetes Streben und eine Art neuer Religion unserer Zeit), ist ein gigantischer Fehler. Um gut leben und um überleben zu können, brauchen wir etwas Größeres, um das wir uns kümmern. Und gleichzeitig müssen wir etwas Größerem angehören, das sich um uns kümmern kann. Wir brauchen eine geteilte Verantwortlichkeit – das Bewusstsein, dass unser Schicksal nicht nur von uns selbst, sondern auch von allen Menschen um uns herum abhängt und wir von ihnen abhängen. Sie ist eine Voraussetzung für das Leben. Sie ist das Leben. Wie der Philosoph und britische Großrabbiner Jonathan Sacks (1948–2013) treffend schrieb, müssen wir „in Zeiten tiefer Spaltungen das Gemeinwohl wiederherstellen“ und lernen, von einer Ethik des Ichs (I-Society) mutig zu einer Ethik des Wir (We-Society) überzugehen.

Wenn wir mit der Hexenjagd aufhören zu fragen, wer das Virus in die Welt gesetzt hat, wer daran schuld ist oder warum es alles passiert ist, und uns stattdessen fragen, was wir daraus lernen können, dann werden wir feststellen, dass es für jeden von uns eine Möglichkeit gibt, sich zu engagieren und unseren Beitrag in dieser Krisenzeit zu leisten. Wir werden entdecken, dass die dringend zu lernende Lektion darin besteht, dem Leben und anderen Menschen zutiefst verpflichtet zu sein. Niemand ist eine Insel. Der Wohlstand, den wir mehr oder weniger genießen, hängt nicht nur von unseren eigenen Bemühungen ab, sondern auch von den unentgeltlichen Beiträgen anderer, die uns meist implizit und indirekt erreichen. Die Coronapandemie macht uns das klar, wenn auch zu einem sehr hohen Preis.

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