4. Verletzlichkeit
Der Rhythmus und die durchgetaktete Organisation unseres heutigen Lebens haben uns dazu gebracht, die Momente zu vernachlässigen oder gedankenlos zu übergehen, die uns unproduktiv erscheinen, und ebenso die Ereignisse, die das Endergebnis des Systems nicht zu beeinträchtigen scheinen, wenn wir sie aus unserem Leben verbannen. Wir sind dazu übergegangen, die wenig rentablen, kaum quantifizierbaren, informellen Ereignisse des Lebens an Dritte oder Institutionen auszulagern – Ereignisse, die uns nicht substanziell und wertvoll genug erscheinen, um unsere Zeit und unser Engagement zu verdienen. Wir haben Erfahrungen, die in der Vergangenheit Mittelpunkt und Sinn des menschlichen Lebens waren – wie die Erziehung der eigenen Kinder, die im Familienkreis eingenommenen Mahlzeiten und die Betreuung und Begleitung der älteren Menschen – an darauf spezialisierte Einrichtungen delegiert.
Das hat zu zwei stark prägende psychologischen Veränderungen geführt. Einerseits hat es bei den unproduktiveren Menschen (den Kindern und den Alten) zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit und der geringen Wertschätzung geführt. Sie fühlen sich wertlos, ungeliebt und abgeschoben. Sie haben das Gefühl, dass ihr Tun und Ergehen für uns unwichtig ist und unsere Aufmerksamkeit nicht verdient. Dafür zahlen auch wir einen Preis, denn andererseits hat dies bei den produktiven Menschen zu einer Trübung des Gefühls der Verletzlichkeit geführt. Ohne dieses positive Gefühl der Verletzlichkeit, das den Sinn für Menschlichkeit bewahrt, haben wir nicht nur uns selbst verändert, indem wir zu bloßen Maschinen geworden sind, sondern haben uns auch als Vorbild hingestellt, dem es zu folgen gilt, da sich unsere Gesellschaft auf produktive Menschen wie uns stützt. Damit haben wir unsere tiefsten Ängste grundlos rationalisiert und sublimiert.
Das Übergehen all der scheinbar unproduktiven Momente und Handlungen hat ein falsches Gefühl der Unverwundbarkeit und der existenziellen Arroganz erzeugt. Die Viruspandemie hat uns dagegen wieder auf den Boden der Realität gebracht. Die Schließung von Schulen und allen Orten des Zusammenkommens zwingt uns, alternative Lösungen zu finden. Es bringt Mütter und Väter mit ihren Kindern zusammen. Es zwingt uns, die Familie wieder zusammenzubringen, sie wiederzuentdecken als das, was sie ist: die ständige Anwesenheit der anderen. Auch von anderen genervt zu werden oder sich von ihnen übergriffig behandelt zu fühlen gehört dazu. Wir entdecken, dass das Zusammenleben nicht aus Personalausweisen mit demselben Nachnamen besteht, sondern aus ständiger und langanhaltender Nähe und Vertrautheit.
Nun herrscht hier in Italien eine Ausgangssperre. Wir sind gezwungen, uns in unserem eigenen Familienkreis miteinander zu beschäftigen. Und so entdecken wir, dass wir verletzlich sind. Das Gefühl der Verletzlichkeit ist keine ethische Tugend, kein außergewöhnliches menschliches Merkmal. Es entsteht nicht durch eine kluge und tiefgehende Introspektion. Im Wesentlichen entsteht es durch die Anwesenheit des anderen, durch die Öffnung gegenüber dem anderen. Es ist der andere Mensch, der in uns das Gefühl unserer Unvollständigkeit und Verletzlichkeit weckt. Aber heutzutage fühlen wir uns durch diese – durch die Viruspandemie enthüllte – Verletzlichkeit unwohl, unbehaglich und verlegen, weil wir uns vor ihr fürchten und nicht wissen, wie wir mit ihr umgehen sollen. Wie der deutsche Soziologe Hartmut Rosa (geb. 1965) sagt, haben wir eine Gesellschaft mit Ressourcen aufgebaut, aber ohne echte Beziehungen. Und das erste, das echte Beziehungen mit sich bringen, ist das nützliche Gefühl von Verletzlichkeit. Es wirkt in beide Richtungen: Verletzlichkeit in uns, die uns zu den anderen hinführt, und Verletzlichkeit in anderen, die sie dazu drängt, auf uns zuzugehen und sich uns vertrauensvoll zur Verfügung zu stellen. Verletzlichkeit schafft Gegenseitigkeit: Zuneigung von anderen zu uns und Emotionen von uns gegenüber anderen.
Nur die Bewahrung dieses Gefühls der Fragilität des Lebens kann der Gesellschaft ein wirkliches Aufblühen garantieren, das Hartmut Rosa als die Fähigkeit beschreibt, eine „soziale Resonanz“ zu erzeugen. Uns ist ein gesundes und wohltuendes Gefühl der Vertrautheit mit anderen verlorengegangen, das es uns ermöglichen würde, eine soziale Resonanz zu erzeugen, indem wir unsere Verletzlichkeit nicht etwa betäuben, sondern sie als ein Thermometer unserer Empathie für andere benutzen. In einer Welt, in der sich Beziehungen, Kommunikation und Geselligkeit bereits hauptsächlich im „Nicht-Ort“ (ein Begriff des französischen Anthropologen Marc Augé) des Virtuellen und in sozialen Netzwerken abspielen, die uns nur die Illusion von Nähe vermitteln, vergrößert die Coronapandemie diese Distanz noch weiter und entfernt uns von den uns nahestehenden realen Personen. Niemand darf andere berühren, küssen oder umarmen. Alle müssen auf Abstand bleiben in einem kalten Kontakt, der ein Nicht-Kontakt ist. Nähe ist medizinisch verboten. Für wie selbstverständlich haben wir diese Gesten und ihre Bedeutung gehalten?
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