»Würdest du verschwinden?«, fragte er. »Wenn du an meiner Stelle wärst? Bis sich alles aufgeklärt hat?«
»Damit machst du dich erst recht verdächtig.«
»Also soll ich hierbleiben?«
Sie nickte und zeigte kopfschüttelnd auf die Zigaretten, die er aus der Tasche gezogen hatte und wieder wegsteckte.
»Geh zur Polizei. Erzähl ihnen von der Erpressung.«
»Das geht nicht. Ich bin auf Bewährung, das weißt du doch! Hilfst du mir?«
»Wie sieht’s aus mit Benzos?«
»Nur wenn du mir hilfst. Deal?«, gab er zurück.
»Wie soll ich dir helfen?«
»Deal?«
Sie nickte und begleitete ihn zur Hintertür.
»Interessiert an W-18?«
»W was?«
»Aus Kanada. Besser und stärker als Fentanyl.«
»Das Zeug, an dem Prince gestorben ist?«
»Und Tom Petty, genau. Und?«
»Nein danke, Ray.«
»Oxycodone? Oxymorphone? Besser als Heroin, glaub mir.«
»Du willst mir Hillbilly-Heroin andrehen? Benzos, Ray, Benzos.«
»Ich frag ja nur!«
»Wo?«, fragte sie, obwohl sie sich vorgenommen hatte, nicht zu fragen.
»Im Gartenschuppen wie immer.«
»Und wie viele?«
»Auch wie immer. Pass auf dich auf!«
Sie ließ eine Viertelstunde verstreichen, bevor sie zum Gartenschuppen ging. Die vierzig Xanax lagen hinter dem Kompostsack in einem Topf auf dem untersten Regal links neben der Tür, wie immer eingewickelt in ein Handtuch. Sie schnupperte an dem Tuch. Es stank nach Benzin. Michael hatte es immer über den Tankdeckel des Rasenmähers gelegt, um ihn leichter aufdrehen zu können. Was das P bedeutete, das mit weißer Farbe auf den Benzinkanister gepinselt war, der neben dem Rasenmäher stand, hatten sie nie herausgefunden. Sie liebte das Knattern des Motors; Michael hatte den Rasenmäher geputzt, gewartet und gepflegt, aber die Wiese gemäht hatte Corinna. Er hatte sich strikt geweigert, Gartenarbeit zu erledigen.
Um ein Haar hätte Corinna die Katze übersehen, die unbeweglich im Schatten eines Ginsterbusches hockte und sie beobachtete. Das große Tier rührte sich nicht vom Fleck und legte den Kopf mit den aufgerichteten Ohren leicht schief wie ein Hund. Corinna blieb etwa zwei Meter von der Katze entfernt stehen und ging in die Hocke. Die Katze blinzelte verschwörerisch und wartete genau wie sie ab, was als Nächstes geschah.
Wie lange das Telefon wohl geklingelt hatte? Corinna kauerte vor dem Beet auf der Garagenseite ihres Cottage und verteilte den Rindenmulch, den Michael im letzten Jahr bei Walmart gekauft hatte. Sie hörte das Klingeln nur, weil ihr der Rücken wehtat und sie sich aufrichten musste. Sollte sie ins Haus laufen? Das Klingeln hörte sowieso auf, bevor sie das Wohnzimmer erreichte. Wenn sie noch lange zögerte ganz bestimmt.
Sie stand im Windfang und schlüpfte aus den offenen Gummischlappen, über die Michael sich immer lustig gemacht hatte – »Mit Absatz wären die Dinger sogar sexy!« –, als das Klingeln aufhörte. Sie ging in die Küche, drehte den Wasserhahn auf und trank aus der hohlen Hand, bis ihr der Hals vom eiskalten Quellwasser wehtat. Sie spürte, wie es über ihre nackten Unterarme lief und auf den Boden tropfte. Es ging ihr gut, sie fühlte sich leicht und unbeschwert. Selbst der Gedanke an den toten Norman Dunbar war nicht wirklich belastend. Sie hatte gestern Nacht zwei Xanax genommen und gleich nach dem Aufstehen die nächste. Umso heftiger traf sie die Erinnerung, die aus dem Nichts über sie hereinbrach: Sie beugte sich im ausgebrannten Einfamilienhaus in der Schweiz über eine verkohlte Leiche, die sich im Feuer zusammengekrümmt hatte, als wollte sie vor der Hitze flüchten. Sie setzte sich an den Küchentisch, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem, bis sie ruhiger wurde und den Brandgeruch nicht länger in der Nase hatte.
Dann checkte sie die Nummer des letzten Anrufes: Tracy. Obwohl sie keine Lust hatte, sich mit ihr zu unterhalten, rief sie zurück. Tracy hob gleich nach dem ersten Klingeln ab. Ihre Stimme klang forsch, im Hintergrund jaulten und bellten ihre Windhunde, die Krallen kratzten über den Steinboden. Wahrscheinlich drängten sie auf ihren Morgenspaziergang. Tracy war erneut vernommen worden, man hatte ihr Alibi überprüft und sichergestellt, dass sie, als ihr Mann ermordet wurde, nicht auf Spruce Head Island, sondern tatsachlich in Boston gewesen war, was von mehreren Zeugen bestätigt wurde. Der exakte Todeszeitpunkt war schwer zu bestimmen, die Obduktion hatte ergeben, dass Dunbar kein Wasser in der Lunge hatte, also erst nach seinem Tod in den Atlantik geworfen worden war. Tatwaffe war wie vermutet die Hummerzange, Todesursache eine massive Hirnblutung.
Tracy zählte die Fakten auf, als redete sie nicht über ihren Mann, sondern über einen Fremden. Corinna ließ sie reden, ohne sie zu unterbrechen. Die Hunde bellten, jaulten. Wieso fiel Corinna erst nach einer Weile auf, dass sie unruhig vor ihrem Bücherregal auf und ab ging, während sie Tracy zuhörte?
»Haben sie dir gesagt, wen sie verdächtigen?«, fragte Corinna.
»Nein.«
»Aber sie wissen von Chad, ich meine vom Verhältnis zwischen Norman und Sky?«
»Ja«, sagte Tracy knapp.
»Ist er zurückgekommen?«, fragte Corinna, öffnete die Glastür und trat aufs Deck hinaus.
»Wie bitte?«
»Ist Chad zurück?«
Sie sah das gerahmte Foto vor sich, das ihr in Skys Flur aufgefallen war: Chad stand in Taucheranzug an Bord eines Schiffes und hielt stolz eine Harpune in die Kamera, eine Sauerstoffflasche auf dem Rücken, die Taucherbrille in die Stirn geschoben. Sky hatte ihr erzählt, dass sie das Bild im Urlaub in Key West gemacht hatte. Er trug die schwarzen Haare kurz wie ein Soldat, war Mitte vierzig, athletisch und auf künstliche Weise attraktiv.
»Natürlich nicht! Das hast du doch nicht etwa im Ernst erwartet? Der Scheißkerl ist zur Fahndung ausgeschrieben.«
In der Ecke des Decks lagen Vogelfedern; Corinna beugte sich über das Geländer und entdeckte den ausgeweideten Kadaver eines Vogels auf der Wiese. Der zarte Rippenkäfig leuchtete in der Sonne, als wäre er aus Kunststoff. Wem gehörte die Katze, die sie letzte Nacht gesehen hatte?
»Setzt du die beiden auf die Straße?«
»Sky? Noch nicht.«
»Hat dir die Polizei die Tatwaffe gezeigt, Tracy?«
»Ja.«
»Gehört die Hummerzange euch?«
»Weiß ich doch nicht! Wir haben so viel Zeug.«
»Das hast du so ausgesagt?«
»Co!«
»Weiß man, wo Norman umgebracht worden ist?«
»Dazu hat man mir nichts gesagt. In unserem Haus jedenfalls nicht. Das steht fest.«
»Er wurde nicht in eurem Haus getötet?«
»Hörst du schlecht? Nein!«
Tracy fragte Corinna, ob es sie störe, wenn sie vorbeikomme, sie brauche dringend Bewegung und müsse sowieso mit den Hunden raus. Ein Zahnarzttermin in einer halben Stunde war die einzige Ausrede, die Corinna einfiel. Sie verabredeten sich zum Abendessen im Luke’s Lobster in Tenants Harbor, dessen windgeschützte Terrasse in der Abendsonne lag und direkt aufs Wasser hinausging.
Nachdem sie aufgelegt hatte, klaubte Corinna die Vogelfedern auf. Drei waren blutverschmiert, bei zweien war der Kiel zerbrochen. Sie trug sie ins Wohnzimmer und breitete sie wie ein Fächer auf dem Couchtisch aus. Um sich vom Bücherregal fernzuhalten, duschte sie zum zweiten Mal, zog ihren Bikini an und schlüpfte in das mauvefarbene Sommerkleid, das Michael ihr in Boston gekauft hatte. Sie würde nicht in Shofestallers Bucht schwimmen, sondern am Owls Head draußen beim Leuchtturm.
Corinna fuhr hinter einem FedEx -Lieferwagen über den Weskeag River, blieb beim Keag aber nicht auf der 73 North Richtung Rockland, sondern bog auf die Dublin Road ab. Es waren kaum andere Autos unterwegs, und sie genoss die Fahrt über die kurvenreiche Landstraße, von der aus sie immer wieder einen Blick auf die zerklüftete Küste werfen konnte.
Читать дальше