»Wie lange lief das schon mit euch?« Tracys Stimme klang ruhig und beherrscht, aber sie wirkte trotzdem, als explodierte sie jeden Moment.
»Das hilft doch jetzt nichts«, sagte Sky.
Corinna konnte die Melodie, die im oberen Stock erklang, nicht sofort als Handyklingeln einordnen. Woher kannte sie die Melodie? Sky kämpfte mit gespannten Beinmuskeln dagegen an, aufzuspringen und nach oben zu laufen, um abzuheben.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte Tracy.
Statt eine Antwort abzuwarten, drängte sie sich an Corinna vorbei, stieß Sky zur Seite und lief die Treppe hoch. Sky fiel beinahe vornüber, fing sich aber und wollte ihr nachlaufen, setzte sich dann aber wieder hin.
»Er ruft andauernd an«, sagte sie zu Corinna. »Er ist in Lowell bei seinem Bruder. Sagt er.«
»Glaubst du ihm?«
»Wo soll er sonst hin? Er war’s nicht.«
Sie hörten Tracys Stimme im oberen Stock, verstanden aber nicht, was sie sagte. Corinna spürte ihre verspannte Nackenmuskulatur. Ein untrügliches Zeichen, dass sie bald Kopfschmerzen bekam. Sie sehnte sich nach einer Xanax, nach Ruhe. Sky trug an jedem Finger ihrer linken Hand einen auffälligen Ring, an der rechten keinen. Was verriet der feine Schweißfilm auf ihrer Oberlippe? Dass sie nervös war, weil sie gelogen hatte? Dass sie dringend einen Joint brauchte? Dass sie auf Meth war wie viele in Maine?
»Es ging mir nur ums Geld«, sagte sie leise mit gesenktem Blick.
Corinna hatte gelernt, dass es manchmal am besten war, keine Fragen zu stellen, sondern einfach abzuwarten und zuzuhören. Sie setzte sich eine Stufe tiefer als Sky auf die Treppe, sah sie nicht an.
»Norm hätte uns sonst rausgeschmissen. Hat er behauptet.«
Tracys Lachen im oberen Stock klang zynisch und unecht. War es ein Fenster, das sie öffnete, oder eine Schranktür?
»Klingt billig, ich weiß. Stimmt aber trotzdem. Es gibt doch keine Arbeit hier. Norm zahlt gut. Und das Haus hier … das Haus …«
Skys Hand beschrieb einen Bogen durch die Luft, als erklärte das Haus, wieso man sich als attraktive Frau auf ein Verhältnis mit seinem viel älteren Arbeitgeber einließ. Dann fing sie an, sich an dem Mückenstich zu kratzen. Corinna packte Skys Hand und hielt sie fest. Sie war kalt.
»Norm ist kein schlechter Liebhaber. Ich meine …«
»Das hast du Chad hoffentlich nicht gesagt. Seid ihr verheiratet?«
»Seit drei Jahren. Er hat ihn nicht umgebracht.«
»Hat er sich mit Norm gestritten?«
»Logisch haben sie gestritten! Aber er hat ihn nicht umgebracht.«
»Hatte Norman Dunbar Feinde?«
»Allerdings!«, sagte Sky. »Hat doch jeder mit so viel Kohle.«
Tracys Stimme war verstummt, ihre Schritte kamen näher. Corinna gelang es aufzustehen, bevor sie auf der Treppe erschien. Tracy setzte sich zwei Stufen über Sky hin und drückte ihr das Handy in die Hand.
»Er stellt sich der Polizei, sagt er.«
»Er war’s nicht, sag ich doch.«
»Mal sehen. Er kommt jedenfalls zurück.«
»Dürfen wir blei…«
»Darüber muss ich erst mal schlafen«, unterbrach Tracy sie und stand auf. »Lass uns von hier verschwinden, Co.«
Corinna blieb bis um 15 Uhr bei Tracy, dann fuhr sie nach Hause. Ihre Laune hatte sich gebessert. Der schwache Druck, den sie hinter der Stirn spürte, war beinahe angenehm. Ein sanfter Schmerz, der sie wach hielt und an etwas Bestimmtes erinnern wollte. Bloß woran? Tracy hatte nicht wie befürchtet das Gespräch mit ihr gesucht, sondern ihre Gesellschaft. Sie hatten sich auf der untersten Etage in einen Raum mit hohen Fenstern auf Liegesessel gelegt, nahezu auf Höhe des Meeresspiegels, italienischen Kaffee getrunken, leise Gregory Porter gehört, kaum geredet und waren eingenickt.
Sie stellte den Dodge in die Garage, blieb aber hinter dem Steuer sitzen und checkte ihr Handy. Ray hatte sich immer noch nicht gemeldet. Sie war unruhig, fühlte sich alt. Sie hatten die Hunde vergessen; oder fuhr Tracy allein nach Camden, um sie in der Tierpension abzuholen? Corinna gähnte und dachte dabei plötzlich an ihren Sohn Thomas. Hatte sie ihm das Gefühl gegeben, er wäre nicht willkommen und sie freute sich nicht auf seinen Besuch? In der Schweiz war es zwar erst kurz nach 21 Uhr, aber sie würde ihn trotzdem nicht anrufen: Ihre Stimme würde ihren Zustand verraten. Sie schrieb ihm besser eine SMS.
liebster tom, kanns kaum erwarten, bis ihr endlich hier seid! freue mich! grüsse an charlotte! deine mam
Das Verlangen nach einer Xanax war ebenso stark wie es noch vor nicht allzu langer Zeit nach Alkohol gewesen war. Sie blieb im Auto sitzen, bis ihr bewusst wurde, dass sie in der Garage einschlafen würde, wenn sie sich nicht zwang, aufzustehen und ins Cottage zu gehen.
Im Haus trieb sie die Unruhe von Zimmer zu Zimmer. Sie räumte einen Schrank im Gästezimmer aus und wieder ein, holte den Staubsauger aus der Kammer hinter der Küche, schaltete ihn dann aber doch nicht ein, sondern machte sich stattdessen daran, Fenster zu putzen, hörte aber nach der ersten Scheibe wieder damit auf. Alle paar Minuten nahm sie ihr Handy in die Hand, um nachzusehen, ob Ray endlich auf ihre SMS reagiert hatte, bis sie es schließlich ins obere Badezimmer legte und sich im Wohnzimmer aufs Sofa setzte, allerdings sofort wieder aufstand, um den Geschirrspüler auszuräumen. Bis sie begriff, dass sie die Maschine gestern nicht gestartet hatte, war die Hälfte des dreckigen Geschirrs bereits im Schrank verräumt. Warum schrieb Tom ihr nicht zurück? Sollte sie versuchen, ihn anzurufen? Im Haus störte sie die Wärme, auf dem Deck der Wind, der Lärm und der Gestank von Norwood Lobster . Eine knappe Stunde hielt sie es aus, dann trat sie doch ans Regal, den Kopf gesenkt wie eine Büßerin, und zog die Romane von Camus heraus. Weshalb hatte sie die Bücher eigentlich nie gelesen? Sie schob sich die zweitletzte Xanax in den Mund und ließ sich aufs Sofa sinken. Sie dachte an Michael, an ihren letzten Streit. Sie wünschte sich, tot zu sein. Sie blieb liegen, ohne sich zu rühren. Sie wünschte sich, niemals zu sterben.
Unter den Glasplatten, die die Tische im Roselyn be- deckten, lagen Poster von Bangkok, Pattaya und Chiang Mai. Michaels Lieblingstisch in der Fensternische mit dem Poster von Ko Samui, wo sie ihre Flitterwochen verbracht hatten, war frei. Corinna setzte sich so hin, dass die ausgeblichene Fotografie auf dem Kopf stand: »The Tropical Marvel of Thailand. Ko Samui«. Sie sah über die Camden Street auf eine Drive-thru-Filiale der Bangor Savings Bank . Sie liebte es, Kunden dabei zu beobachten, wie sie sich abmühten, ohne auszusteigen Geld zu ziehen, und meist viel länger dafür brauchten, als wenn sie ausgestiegen wären. Heute war der Schalter leer. Im Roselyn gefielen Corinna sogar die künstlichen Blumen, die überall im Lokal verteilt waren. Man sah ihnen auf den ersten Blick an, dass sie aus Plastik waren. Das Kunstleder der Sitzbank klebte an ihren nackten Beinen und quietschte, als sie sich nach Xu Ying umwandte, der mit einer Dose Diet Coke auf sie zukam, die Speisekarte unter den Arm geklemmt.
»Schön, dich zu sehen«, sagte Xu und stellte die Cola auf den Tisch. »Wie immer?«
»Wie immer, Xu. Danke!«
Corinna brauchte nicht in die Speisekarte zu sehen. Sie aß immer Crab Rangoon als Vorspeise und danach ein extra scharfes Massaman-Curry mit Chicken. Der Duft nach Fischsauce, der in der Luft schwebte, erinnerte sie unweigerlich an ihre Flitterwochen vor dreiunddreißig Jahren. Die Bilder, die sich ihr aufdrängten, waren schmerzhaft, gleichzeitig genoss sie sie. Michael liebte thailändisches Essen und hatte sich bei Xu Ying sofort beliebt gemacht, indem er ihn bei ihrem ersten Besuch mit einem chinesischen »Ni hao« begrüßte. Bei ihrem zweiten Besuch hatte ihnen der kleine Mann mit dem dünnen weißen Zopf, der ihm bis zur Hüfte reichte, erzählt, Michael sei der erste, wirklich erste Gast im Roselyn, der ihn als Chinesen erkannt und nicht für einen Thailänder oder Japaner gehalten hatte. Sie wusste nicht viel von Xu Ying, nicht sein Alter, ob er verheiratet war und Familie hatte, nur, dass er aus Sichuan stammte und seit Jahrzehnten in den USA lebte. Was wusste er von ihr? So wenig wie sie von ihm. Würde er sie nach Michael fragen?
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