Heinz-Peter Meidinger - Die 10 Todsünden der Schulpolitik

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Deutschland versinkt im Schulchaos. Reform folgt auf Reform und doch verändert sich an den grundsätzlichen Defiziten so gut wie nichts. Die Schule ist heillos überfordert, soll sie doch alle gesellschaftlichen Probleme von der Integration bis hin zur demokratischen Erziehung lösen. Dazu Lehrermangel allerorten, Defizite bei der Digitalisierung und die fatalen Auswirkungen des Neoliberalismus, Stichwort Ware Bildung. Die Coronakrise hat das Versagen der Bildungspolitik endgültig offenbart. Heinz-Peter Meidinger vertritt 160.000 Lehrkräfte in Deutschland und ist der wohl gefragteste Experte in Sachen Schulpolitik. Wer könnte besser die Todsünden des Schulsystems benennen?

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INHALT Cover Titel Impressum Schulpolitik in der Krise Todsünde Nr - фото 1

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Schulpolitik in der Krise

Todsünde Nr. 1:

Überforderung von Schule durch politische Vorgaben und gesellschaftliche Erwartungshaltungen – Schule als Reparaturbetrieb der Gesellschaft

Todsünde Nr. 2:

Sich an Visionen und nicht an Problemlösungen vor Ort orientieren – Schulpolitik, die von Ideologien bestimmt wird

Todsünde Nr. 3:

Eine Reformsau nach der anderen durch unsere Schulen treiben – Bildungspolitik als Experimentierfeld unausgereifter Reformen und als parteipolitischer Kampfplatz

Todsünde Nr. 4:

Schule nach ökonomischen Kriterien umformen – der verhängnisvolle Einfluss des Neoliberalismus

Todsünde Nr. 5:

Dauerversagen des Bildungsföderalismus beim Thema „Leistungsunterschiede und mangelnde Vergleichbarkeit“

Todsünde Nr. 6:

Katastrophales Krisenmanagement bei der Bewältigung der Corona-Pandemie an Schulen

Todsünde Nr. 7:

Quote statt Qualität – Vernachlässigung des Leistungsprinzips: Bestnoteninflation und Niveauabsenkung

Todsünde Nr. 8:

Totalversagen bei der Lehrerversorgung und kein Konzept gegen massiven Unterrichtsausfall

Todsünde Nr. 9:

Vernachlässigung der beruflichen Bildung: Mit dem Abitur als Königsweg auf dem Weg zur Akademikergesellschaft?

Todsünde Nr. 10:

Fehlende Einbeziehung und Partizipation der Betroffenen

Ausblick:

10 Ratschläge für eine bessere Bildungspolitik

SCHULPOLITIK IN DER KRISE

Die Coronakrise stellt nicht nur Staat und Gesellschaft, sondern auch unser Bildungssystem vor eine riesige Herausforderung. Bisherige Debatten und Auseinandersetzungen in der Schulpolitik sind weitgehend in den Hintergrund getreten. Die Pandemie und die monatelangen Schulschließungen haben nicht nur Defizite und Versäumnisse auf-, sondern auch viele Schwachstellen und ungelöste Probleme zugedeckt.

Selten wurde uns das Versagen der Politik so drastisch vor Augen geführt wie in der Ausnahmesituation der Corona-Pandemie. Als von heute auf morgen die Schulen im März 2020 geschlossen wurden, gab es zunächst einmal ein böses Erwachen. Auf einen Schlag rächten sich die Versäumnisse der Vergangenheit: der ewig verschleppte Digitalpakt Schule, von dessen bereitgestellten 5 Milliarden Euro bis dahin nicht einmal 5 Prozent der Mittel von den Ländern und Kommunen abgerufen worden waren, das Fehlen funktionierender Lernplattformen, der grundlegende Sanierungsstau an deutschen Schulen, den die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) auf knapp 45 Milliarden Euro schätzt, die mangelnden Fortbildungsangebote für Lehrkräfte und nicht zuletzt der große Lehrermangel, der etwa verhindert, dass Schulen ausfallende Risikopersonen unter Lehrkräften angemessen ersetzen konnten.

Umgekehrt hat die Schulpolitik von dem Naturereignis der Pandemie auch vordergründig profitiert, weil nämlich andere Missstände und Probleme – zumindest vorübergehend – in den Hintergrund gerückt sind, etwa die Riesenaufgabe der Integration von Kindern mit Migrationskontext, das Problem der mangelnden Vergleichbarkeit der Abschlüsse und das Auseinanderklaffen der Schulleistungen und Lernerfolge unter den Bundesländern. Zwischen dem Durchschnitt der Ergebnisse von Schülerinnen und Schülern aus Bayern und Sachsen auf der einen Seite sowie Berlin und Bremen auf der anderen Seite liegen je nach Aufgabenfeld bis zu zwei Lernjahre, bei 15-Jährigen wohlgemerkt.

Es sollte doch eigentlich eine der schönsten und begehrtesten Aufgaben der Politik sein, für die Bildung von Kindern und Jugendlichen, für deren Zukunftschancen Verantwortung zu tragen und Konzepte entwickeln zu dürfen. Aber die Bildungspolitik gilt nicht nur unter den Nachwuchskräften in den Parteien als unsexy und nicht mehr als ein attraktives Betätigungsfeld. Ungeachtet aller Beteuerungen, wie wichtig Bildung in diesem Lande ist – die Stellung der Schulminister in den Kabinetten ist fast durchgängig eher schwach, vielfach wurde das Schulressort von der größten Regierungsfraktion ohne größeren Widerstand den kleineren Partnern überlassen, so gerade in den bevölkerungsreichsten Bundesländern, in Bayern, in Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen. Und wenn einmal Dampf im Kessel ist und Entscheidungen im Schulbereich getroffen werden müssen, dann reißt meist der Ministerpräsident, die Ministerpräsidentin im Rahmen der Richtlinienkompetenz die Entscheidungsbefugnis an sich und die Schulminister sitzen bedröppelt daneben.

Und man kann es karrierebewussten Jungpolitikern auch gar nicht verdenken, dass sie das Feld der Bildungspolitik weiträumig umkurven. Wohl kaum ein Ministeramt hält so viele und so große Herausforderungen, aber auch eine so große Gefahr potenzieller Skandale bereit wie das Schulressort. Mir vertraute einmal eine erfahrene Bildungsministerin an: „Auch wenn ich genau wüsste, wo überall Tretminen versteckt sind, ich werde niemals verhindern können, von Zeit zu Zeit auf eine zu treten. Man hofft halt immer, dass sie nicht tödlich ist und sich die Verletzungen in Grenzen halten.“

In der Bildungspolitik kommt alles, was politisches Handeln schwierig macht, zusammen: Hohe Komplexität, riesiger Finanzbedarf, ein beträchtlicher Grad an Polarisierung und Emotionalität sowie ein Thema und Regelungsbereich, von dem fast alle betroffen sind oder waren.

Auf folgende Bedingungen muss man sich als Akteur in diesem Politikfeld einstellen:

1. In Schulfragen glaubt fast jeder, mitreden zu können und zu müssen, auch wenn sich die eigene Expertise lediglich auf die persönliche, oft weit zurückliegende Schulzeit stützen kann. Ähnlich wie beim Fußball, wo es der Bundestrainer mit einer ganzen Nation von Besserwissern zu tun hat, hat auch zu Schulfragen fast jeder seine Meinung und vermeintliche Expertise. Gleichzeitig sind – noch eine Parallele zum Fußball – ständig jede Menge an Emotionen im Spiel. Jederzeit können alte Wunden, Demütigungen und Misserfolge der eigenen Schulzeit wieder aufbrechen, jederzeit kann die Fürsorge für das eigene Kind in harte Kritik und Aggression umschlagen. Bildungspolitik polarisiert, inhaltlich und emotional.

Es ist unabdingbar, dass Schulpolitik demokratisch legitimiert ist und sich der öffentlichen Diskussion stellt. Mitreden, mitgestalten, politische Teilhabe – das gehört zum Wesenskern der Demokratie. Problematisch wird es, weil es so viele Mitspieler in der Schulpolitik gibt, deren Einfluss beträchtlich, aber eher verdeckt und unsichtbar erfolgt. Gemeint sind mächtige Lobbygruppen und Interessenverbände etwa aus der Wirtschaft, natürlich die Eltern- und Lehrerverbände – aber auch manche Bildungsstiftung verfolgt ihre eigene Agenda.

2. Ein Bildungssystem ist ein hochkomplexes Gebilde, alles hängt mit allem zusammen, sowohl innerhalb des Schulsystems eines Landes als auch mit der Schulpolitik anderer Bundesländer. Darüber hinaus hat jeder Eingriff in die Schulstruktur, in die Gestaltung der Abschlüsse und in die Schulorganisation sofort wieder direkte und indirekte Auswirkungen auf andere Bereiche, etwa die Abnehmer von Schulabsolventen, das Beschäftigungssystem, die Wirtschaft oder etwa die Kommunen als Schulträger. Dafür nur ein Beispiel: Als vor rund 20 Jahren immer mehr Bundesländer die gymnasiale Schulzeit um ein Jahr verkürzten, waren weder den Ministerpräsidenten noch den Schulpolitikern die Tragweite und die Folgewirkungen dieser Entscheidung bewusst. Ach, da gibt es doch so viel Leerlauf, da macht dieses eine Jahr kaum etwas aus, hörte ich oft. Oder man war der Auffassung, weil das G8 in den neuen Bundesländern zum Teil gut klappte, würde es auch in den alten funktionieren. Ein Musterbeispiel dafür, dass gerade im Schulbereich eine scheinbar einfache Übertragung von Strukturmodellen von A nach B scheitert, wenn man die unterschiedlichen Rahmenbedingungen nicht beachtet. Überrascht stellten die Landesregierungen daraufhin fest, was sie sich an Folgeproblemen eingehandelt hatten: Mittagskantinen wegen des verstärkten Nachmittagsunterrichts mussten gebaut werden, den Sportvereinen, den Kirchen und Jugendchören brach der Nachwuchs weg, duale Ausbildungswege dünnten aus, weil nun das Abitur schneller erreichbar war als die Gesellenprüfung, die Lehrpläne mussten auf Druck von Elternverbänden mehrfach überarbeitet, die Stundentafeln weiter reduziert werden, ohne dass die Akzeptanz für die überstürzt eingeführte Schulzeitverkürzung nennenswert stieg. Ein Musterbeispiel für eine Reform, die deshalb vielerorts scheiterte, weil der Blick für das Ganze fehlte.

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