Grundsätzlich ist zu bemerken, dass nicht alle Personen, die nach Maßstab der gängigen diagnostischen Kriterien Teil des Spektrums wären, auch tatsächlich eine Diagnose erhalten. Neben dem genannten vorsätzlichen Verzicht einer Abklärung, kommt es gerade bei Kindern und Jugendlichen immer wieder vor, dass die Diagnostik ohne entsprechende Expertise erfolgt oder uneindeutig bleibt.
Je nach Verfügbarkeit entsprechender Einrichtungen bzw. Kapazitäten dieser kann der Prozess der diagnostischen Abklärung schnell gehen (direkte Terminvergabe bei der ersten Kontaktaufnahme) oder aber mit längeren Wartezeiten bzw. Kontakt mit verschiedenen Stellen verbunden sein.
Besonderheiten im Bereich Autismus
Bereich »Kontakt«
• Gestaltung von Blickkontakt
• Erkennen und Einsatz nonverbaler Verhaltensweisen
• Beziehungsaufnahme zu Gleichaltrigen
• Spontanes Teilen von Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen
Das soziale Miteinander kann Menschen mit Autismus überfordern. Die »ungeschriebenen Regeln« des zwischenmenschlichen Kontaktes sind für sie nicht klar und werden entsprechend auch nicht beachtet. Soziale Konzepte wie beispielsweise »Höflichkeit« sind nicht ohne Weiteres bekannt. Ihnen fehlt die Fähigkeit, in diesen Bereichen »intuitiv« richtig zu handeln.
Es wäre jedoch falsch, auf Grundlage dessen anzunehmen, dass Menschen mit Autismus keinerlei Kontakt wünschen oder Kontakt grundsätzlich nicht ertragen können. Vielen von ihnen fehlen vielmehr die passenden Konzepte, wie man in Kontakt treten kann oder wie z. B. Freundschaften »funktionieren«.
Besondere Schwerpunkt im Bereich »Kontakt«: Verstehen sozialer Regeln
Das intuitive Nachvollziehen bestimmter Regeln, die wichtig sind für das soziale Miteinander, ist für Menschen mit Autismus oft nicht möglich. Sie müssen diese Regeln unter Umständen mehrmals erklärt bekommen, bis sie sie kennen und entsprechend auch ihr Verhalten darauf abstimmen können.
• Verzögerte und ausbleibende Sprachentwicklung
• Sprachlicher Kontakt zum gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen
• Stereotyper und repetitiver Gebrauch der Sprache
• Fehlen von entwicklungsgemäßen Rollen- und Imitationsspielen
Einige Menschen mit Autismus entwickeln keine verbale Sprache. Einige von ihnen können jedoch mit Unterstützung erlernen, Kommunikationshilfen einzusetzen, um so auf eigene Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Andere wiederum entwickeln eine stilistisch sehr anspruchsvolle verbale Sprache und können sich sehr genau ausdrücken. Gerade bei Menschen mit Asperger-Syndrom fällt allerdings auf, dass bestimmte Besonderheiten in der Sprache fehlen, was sich durch die Autismus-Störung erklären lässt (Bölte, 2015).
Bei diesen Menschen können Probleme in der Kommunikation auftreten, wenn es z. B. um das Thema »Small-Talk« geht: Bei einem Gespräch mit Mitschülern auf dem Schulhof berichtet ein Mensch mit Autismus beispielsweise sehr ausführlich und detailreich von Themen, die ihn selbst interessieren. Ist jedoch erforderlich, dass er sich auf die Themen der anderen einlässt, fällt ihm das voraussichtlich schwer.
Besonderer Schwerpunkt im Bereich »Kommunikation«: Motivation in Bezug auf Kommunikation
Die Motivation, sich verbal zu äußern, ist bei Menschen mit Autismus unterschiedlich stark ausgeprägt. Geht es um für sie interessante Themen, sind sie mitunter überdurchschnittlich motiviert. Für sie uninteressante Themen werden häufig aktiv abgelehnt.
Schwer beeinträchtige Menschen mit Autismus müssen darüber hinaus zunächst den »Sinn« bzw. die Vorteile von Kommunikation konkret erleben, damit sie eine Motivation entwickeln, sich mitzuteilen (
Kap. 4.1
, Kommunikationsförderung durch »PECS«).
Bereich »Handlung/Interessen«
• Interessen können in Inhalt und Intensität ungewöhnlich sein
• Festhalten an Gewohntem oder Ritualen
• Stereotype und repetitive Manierismen zeigen sich z. B. in schnellen Bewegungen von Fingern oder Händen oder im Schaukeln des Körpers
• Ständige Beschäftigung mit Teilen und Objekten
Ihr Verhalten flexibel an die jeweilige Situation anzupassen, gelingt Menschen mit Autismus in der Regel nicht. Konkret kann dies bei spontanen Planänderungen zum Problem werden. Der Wunsch nach Kontinuität und Vorhersehbarkeit, den viele Menschen im Autismus-Spektrum verstärkt äußern, kann hier nicht erfüllt werden. Mögliche Resultate aus dieser Situation sind extreme Anspannung und Aufregung.
Besondere Schwerpunkte im Bereich »Handlung/Interessen«:
Handlungsplanung
Mit einer autistischen Wahrnehmung ist die Selbstorganisation eine große Herausforderung. Meist sind hierfür notwendige Fähigkeiten, wie selbst einschätzen zu können, mit welchen Anforderungen eine bestimmte Handlung einhergeht, nicht vorhanden. Auch die Frage danach, in welcher Reihenfolge oder an welchem Ort bestimmte Handlungen ausgeführt werden sollen, ist häufig unklar (
Kap. 4.1
, Förderung der Selbstorganisation durch »TEACCH«)
Impulskontrolle
Für viele Menschen mit Autismus ist es nur sehr bedingt möglich, ihre Impulse zu regulieren und es kann oftmals zu stark enthemmten Verhaltensweisen kommen.
Ursache-Wirkungszusammenhänge erkennen
Menschen im Autismus-Spektrum sind oft nicht in der Lage, die Auswirkungen ihrer eigenen Handlungen auf andere richtig einzuschätzen. Hierdurch führt ihr Handeln fast automatisch zu weiteren Auffälligkeiten und Störungen.
Schwierigkeiten im Bereich Verhaltens- und Problemlösestrategien
Selbst wenn sich Probleme häufen und der Druck bezüglich dieser Probleme steigt, sind Menschen mit Autismus meist nicht in der Lage, eigenständig Lösungen für diese Situationen zu finden. Sie können ihre Verhaltensmuster nicht ohne Weiteres ändern, was im Hinblick auf eine Veränderung dieser Probleme allerdings oftmals erforderlich wäre.
Bereich »Wahrnehmung/Stress«
• Probleme in der Selbstregulation bewirkt erhöhte körperliche Anspannung
• Schwierigkeiten bei Lösungsfindung
• Ständiges Grübeln
• Probleme bei Wahrnehmung sensorischer Reize
Die diversen Anforderungen des Alltags zu bewältigen, ist für Menschen mit Autismus nicht immer einfach. Aufgrund ihrer Wahrnehmungsbesonderheiten stellen vermeintlich »normale« Situationen sie vor ungewöhnliche Herausforderungen. So können oftmals eigentlich irrelevante Reize, wie beispielsweise das tickende Geräusch einer Uhr in einem Therapieraum oder die Geräusche der Toilettenspülung aus der Nachbarwohnung, eben nicht als »wenig bedeutsam« oder vielleicht sogar »hinderlich« herausgefiltert werden. Dieses »Nicht-relativieren-Können« bei äußeren Einflüssen erschwert den Alltag der Betroffenen oft stark. Reize, die für andere Menschen kaum wahrnehmbar sind, können Menschen mit Autismus extrem beschäftigen und weitere, teilweise erhebliche Beeinträchtigungen oder Probleme nach sich ziehen.
Eigene Beschreibungen von Menschen mit Autismus helfen zunehmend dabei, die Bedeutsamkeit von Themen wie »Ursachen von Stress« und »Umgang mit Stress« im Bereich Autismus zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Christine Preißmann schreibt hierzu: »Menschen mit Autismus fühlen sich in allen Lebensbereichen ganz erheblichem Stress ausgesetzt. Lange Zeit wurde das nicht als Problem erkannt, und erst allmählich beginnt man, sich im Zusammenhang mit Autismus auch mit den Themen Stress und Entspannung zu beschäftigen« (Preißmann, 2015, S. 105).
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