Sie sind mit Paul Mazurkas Anrufbeantworter verbunden. Wenn Sie eine Nachricht auf Band sprechen wollen, dann tun Sie das nach …
»Moment bitte«, krächzte ich, sprang aus dem Bett und lief ins Arbeitszimmer, um das Tonband auszuschalten. Als ich zurückkam, war die Leitung tot. Ich fluchte und legte auf. Eine halbe Minute später klingelte es wieder.
»Hallo, Paul.«
»Tom … Warum bist du nicht drangeblieben?«
»Sag nichts, hör mir einfach zu. Ich bin in Schwierigkeiten. Was ich meine, ist, dass ich bis zum Hals in einer Jauchegrube sitze und nicht weiß, wie ich da wieder rauskomme.«
Irgendetwas war mit seiner Stimme los. Sie war zu leise, unterlag Schwankungen im Bereich einer halben Oktav, war rau wie nach drei Schachteln Marlboro, weich wie nach einer gewaltigen zwölfstündigen …
»… Sauftour!«, rief ich. »Ich hab’s. Du hast die Nacht durchgemacht und denkst dir jetzt, es muss noch nicht zu Ende sein, wir könnten noch –«
»Sarah ist ermordet worden.«
»Ich hab’s gehört. Tut mir leid.« Mehr fiel mir zu dieser Tageszeit beim besten Willen nicht ein.
»Wir hatten was miteinander. Ist zwar schon eine Weile her, und sonderlich erfolgreich war es für beide nicht, aber es könnte der Grund sein, warum –«
»Auch das weiß ich«, unterbrach ich ihn. »Und wie es ausgegangen ist, weiß ich auch. ›Nicht sonderlich erfolgreich‹ ist kühnes Understatement. Tom, wir können darüber reden. Aber muss es um sechs Uhr morgens sein?«
»Sie haben mein Studio durchsucht. Sie wissen, dass ich es habe. Sie wollen es zurück.«
»Wovon sprichst du? Wer hat dein Studio durchsucht?«
»Drei. Sie waren zu dritt. Gestern Abend. Ich habe es vom ›Café Prückel‹ aus beobachtet, bin dann ins ›Alt Wien‹ gerannt. Unter Menschen, verstehst du?«
Nein. Nichts verstand ich.
»Der Typ, von dem Sarah es hatte, ist verschwunden. Nicht unwahrscheinlich, dass er im selben Zustand wie sie wiederauftaucht. Ich habe keine Lust, der Nächste zu sein. Darum hab ich alles von der Diskette auf meine Festplatte kopiert.«
»Was ist los?«
»Die Diskette und die Fotos. Eines hat sie mir zum Vergrößern gegeben, bevor die Schweine sie erwischt haben.«
»Versuch dich zu beruhigen, wie wär das?«
»Hör mir einfach zu, Paul! Ich hab’s dir geschickt; ich wusste ja nicht, wann du wiederkommst. Du müsstest es schon haben. Die anderen, die wirklich schlimmen –«
»Was hast du mir geschickt?«
»Hörst du mir jetzt endlich zu!« Seine Stimme überschlug sich.
»Bleib ruhig, ich hör dir ja zu.«
»Ruhig!«, schnaufte er. »Hast du deine Post durchgesehen?«
»Um sechs Uhr am Morgen? Nein.«
»Das Foto muss dabei sein. Der Grund, warum sie Sarah umgebracht haben … Prüf nach, wer der Mann neben dem Bischof ist …«
»Tom! Wer? Wer ist hinter dir her?«
Er murmelte etwas. Es klang wie »Radius Hominis«. Dann rief er: »Mist! Ich hab kein Telefongeld mehr. Hör zu, Paul. Komm ins ›Alt Wien‹. Sie sperren um neun wieder auf. Ich treib mich inzwischen hier in der Gegend herum. Wir sehen uns dann.«
»Wo ist ›hier‹? Wo bist du jetzt? Warum kommst du nicht zu mir?« Noch während ich meine Fragen stellte, ertönte ein Tuten, das ihn dazu aufforderte, eine Münze nachzuwerfen.
»Kann gut sein, dass die Polizei deine Adresse bereits hat. Zu riskant. Komm ins ›Alt Wien‹, Paul. Um neun.«
»Tom? Bist du noch dran? Warum sollte sich die Polizei für meine Adresse interessieren?«
»Weil die denken werden, ich hab’s getan. Ich war dort, ja. Aber nur, um die Tasche zu übernehmen. Verstehst du? Da war sie bereits –«
Klick. Nur klick. Nichts weiter. Wenn das ein Scherz ist …, war mein erster Gedanke. Aber ich wusste, dass es keiner war. Tom und Sarah hatten sich vor der Trennung zerfleischt, einander beschimpft, Sachen an den Kopf geworfen, die keine Beziehung überlebt. Schon gar nicht eine, die von allem Anfang an auf Sand gebaut war. Doch mit ihrem Tod würde er keine Scherze treiben. Das nicht.
Thomas Hrdlicka und ich sind uns vor zehn Jahren zum ersten Mal über den Weg gelaufen. Tom war damals fünfundzwanzig und damit beschäftigt, ein Lokal aufzuräumen. Er war gut darin. Ich ging in Deckung, wartete, bis er den letzten Stänkerer zur Tür hinausbefördert hatte, und widmete mich wieder meinem Schnaps. Wir kamen ins Gespräch und stellten fest, dass uns eine gemeinsame Leidenschaft verband: Wir tranken beide gerne bis zum Umfallen.
Heute ist aus dieser Leidenschaft eine halb gezähmte Bestie geworden, die im Keller angekettet von ihrer Freiheit träumt und viel öfter knurrt, als sie beißt. Hin und wieder, wenn nicht viel zu tun ist, darf sie in den Garten, und der ist umzäunt. Doch damals war sie ein wilderndes, unberechenbares Raubtier, das mit Zähnen und Klauen über alles und jeden herfiel.
Der Rausschmeißerjob war einer von vielen, mit denen sich Tom in jenen Tagen seine Ausbildung finanzierte. Nachdem er sie abgeschlossen hatte, konnte er bescheidene Erfolge als Fotograf verbuchen, während ich fast gleichzeitig meine schlecht bezahlte Lektorentätigkeit aufgab und in den Journalismus überwechselte. Anfangs war die Bezahlung nicht nennenswert besser, doch immerhin fiel das Texten von Waschzetteln weg – ein Fortschritt, den man nicht gering achten sollte. Wir machten zusammen ein paar Reportagen und einmal sogar ein Buch und gaben im Großen und Ganzen ein gutes Team ab. Zumindest, wenn kein Schnapsfass in Reichweite war.
In letzter Zeit war Tom die Steuer auf den Hals gerückt (ein Schicksal, das mir bislang erspart geblieben ist) und hatte einen Teil seiner Studioeinrichtung gepfändet, doch war es ihm, bevor es wirklich brenzlig wurde, geglückt, die teuersten Geräte auszulagern und an einem sicheren Ort zu verstecken. (Wo, wird nicht verraten; vielleicht gehören Sie ja selbst zu dieser Bande.) Trotz solcher Querelen, die zum Alltag fast aller zählen, die nicht angestellt oder beamtet sind, hatte sich Toms Auftragslage merklich verbessert; auch die Bank war längst kein Ort des Schreckens mehr; es ging ihm mit einem Wort gar nicht so übel. Wie’s schien, hatte sich das allerdings über Nacht geändert.
An Schlafen war natürlich nicht mehr zu denken. Ich wälzte mich noch fünf Minuten im Bett herum, ging dann ins Badezimmer und vergönnte mir eine ausgedehnte kühle Dusche. Beim Zähneputzen fiel mir unangenehm auf, wie leer das Badezimmer war. Obwohl es sieben Wochen oder noch länger zurücklag, dass Dana Broch mit gepackten Koffern aus meinem Leben gegangen war, hatte ich es immer noch nicht geschafft, mich mit diesem Anblick anzufreunden. Das Badezimmer war Danas Domäne gewesen, das Étagère (ja, so heißt das, ob Sie’s glauben oder nicht) ihre Kommandobrücke, auf dem wegen erhöhten Flacon- und Puderdosenaufkommens kein Platz mehr für meine Zahnbürste und meinen Rasierer geblieben war. Nun lagen sie auf dem Waschbord (so hatte ich das Ding vorher genannt) und schienen dem alten Trubel nachzutrauern.
Mit schwarzem Mocca und einer ersten Zigarette bewaffnet, ging ich den Terminplan durch. Heute Abend Präsentation der Zeitschrift »Donauwelle«; drei weitere Termine bis zum Ende der Woche. Das war nicht sehr viel. Warum auch. Es war Montag, der 10. Juli 1995. Hochsommer. Ferienzeit. Ganz Wien lag mit kalten Wickeln in der Hängematte und stöhnte über die Hitze. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass ich schleunigst einen Auftrag brauchte. Urlaubsreisen kosten immer mehr als geplant; bei mir war das nicht anders. Bei mir schon gar nicht.
Für mich war die Zeit gekommen, die Post nach Toms Sendung durchzusehen. Ich hatte diesen Augenblick hinausgezögert, um aus dem Telefonat schlau zu werden. Den Gedanken gab ich auf. Ich fand es sofort. Ein gepolstertes DIN-A4-Kuvert. Wiederverschließbar mittels Klebestreifen. Ein Foto, dreizehn mal achtzehn Zentimeter. Schwarz-weiß, Hochglanz. Toms bevorzugtes Ilford-Papier. Zwei Männer, die lachend Arm in Arm aus einem Tor heraustraten. Darüber ein Schriftzug, den ich nicht entziffern konnte. Nicht mit freiem Auge. Eine weinbewachsene Mauer. Konnte überall sein, wo es Wein gab. Zum Beispiel in Wien. Der jüngere Mann war ein südlicher Typ: überschlank, dunkle, kurz geschnittene Haare, dunkler Teint, Falkenprofil. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Der andere war der österreichische Kardinal Heinrich Grunert. Kardinal geht mit Freund zum Heurigen. So what? Wenn dieses Foto eine brisante Information verbarg, dann bekam ich sie jedenfalls nicht mit. Prüf nach, wer der Mann neben dem Bischof ist. Tom hatte Bischof gesagt, nicht Kardinal. Warum?
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