David Leadbeater - ODINS VERMÄCHTNIS (ein Matt Drake Abenteuer)

Einer der Kultisten riss gerade die Skulptur aus den toten und blutigen Fingern eines sterbenden Gegners. Ein deutscher Soldat umrundete ihn und griff von der Seite an, aber der Kultist war gut, wirbelte herum und erledigte ihm mit drei tödlichen Schlägen, dann knallte er den erschlafften Körper mit einem Schulterwurf auf den Boden. Um auf Nummer sicher zu gehen, feuerte der Kultist noch drei Schüsse aus nächster Nähe ab und schleppte dann weiter in aller Seelenruhe die Skulptur in Richtung Ausgang. Drake war von dessen Fähigkeiten beeindruckt. Als der Kultist seine Kameraden erreichte, ließen diese einen Kugelhagel folgen und zogen sich über die immer noch rauchenden Trümmer zurück.

»Wir gewinnen!«, schrie der Kultist mit einem englischen Akzent und hob eine Faust in Richtung der überlebenden Deutschen. Drake hörte Arroganz aus ihrer Stimme. Ja, das war definitiv eine Frau unter der Sturmmaske. Aber da war noch etwas anderes, etwas Vertrautes …

Die Frau blieb stehen und nahm die Maske ab, wirkte dabei verächtlich. Sie lachte die Deutschen aus. »Ha! Glaubt ihr etwa, wir könnten euch nicht überallhin folgen? Glaubt ihr, wir wissen nicht, was ihr vorhabt? Wir haben auf euch gewartet . Wir wissen, wo ihr als Nächstes seid – wir suchen alle dasselbe. Ihr solltet euch aus Uppsala fernhalten , wenn ihr überleben wollt.«

Drake hätte es vielleicht die Füße weggezogen, wenn er nicht sowieso schon auf den Knien gewesen wäre. Der Schock traf ihn wie die Kugel aus einer Waffe. Er kannte diese sogenannte Kultistin. Er kannte sie gut. Es war Alicia Myles, eine Londonerin, die denselben Rang im britischen SRT gehabt hatte wie er.

Das Special Reconnaissance Team: Ein geheimes Regiment innerhalb des SAS, Teil der geheimen britischen Einheit, die als die Neunte Division bekannt war. Die Besten der Besten. Patrioten. Handverlesen von Leuten, die selbst handverlesen waren.

»Ich kenne sie«, flüsterte er, ohne nachzudenken. »Wir waren im selben Regiment.«

Wellsʼ Kommentar hatte Erinnerungen wachgerufen, die für immer begraben bleiben sollten. Du warst mehr als nur SAS. Wieso willst du dich daran nicht erinnern?

Weil wir damals nicht nur Soldaten waren.

Diese Zeiten, diese Gefechte, diese Momente, in denen es um Leben und Tod ging, um Kampf und Kameradschaft, hatten ihn geformt.

Alicia Myles war eine der Besten, die er je gekannt hatte. Frauen mussten in den Special Forces besser sein als Männer, um auch nur halb so weit zu kommen. Und Alicia war direkt bis an die Spitze geschossen, das erste weibliche Mitglied des SAS.

Wieso war sie in das hier verwickelt und hörte sich an wie eine Fanatikerin, die sie seines Wissens nach nicht war? Es gab nur eines, das Alicia motivierte – Geld.

Arbeitete sie deswegen für die Kultisten?

Drake robbte in Richtung des normalen Ausgangs. »Also, davon abgesehen, dass wir immer noch auf der Mordliste stehen und nicht wissen, wer unsere Gegner sind«, schnaufte er, »haben wir nun ein paar Feinde mehr und nichts erreicht, außer, dass wir jetzt noch weniger Ahnung haben, was hier vor sich geht.«

Kennedy, die hinter ihm kroch, sagte: »Das ist grob zusammengefasst mein Leben.«

Paris, Frankreich

Kennedys Suite war ein Palast verglichen mit dem Zimmer, in dem Drake und Ben ein paar Stunden verbracht hatten.

»Ich dachte, ihr Cops seid alle pleite«, grummelte Drake, der Türen und Fenster überprüfte, um zu sehen, wie man in das Zimmer hinein- und herauskam.

»Sind wir auch. Aber wenn man zehn Jahre so gut wie keinen Urlaub nimmt, dann sammelt sich ein bisschen was auf dem Konto an.«

»Hey, kann ich den benutzen?«, fragte Ben und griff nach dem Laptop, der auf einem Kaffeetisch am Fenster stand. Ben hatten sie im Schatten der Gebäude neben der Glaspyramide aufgelesen, als sie schließlich das Museum verließen. In dem Chaos war es nicht schwer gewesen, sich als verängstigte Touristen auszugeben.

»Wieso verständigen wir nicht die französischen Behörden und sagen ihnen, was wir wissen?«, fragte Kennedy, während Ben den Laptop aufklappte.

»Weil es Franzosen sind«, sagte Drake mit einem Lachen und verstummte, als keiner mit einstimmte. Er saß auf der Kante von Kennedys Bett und sah zu, wie sein Freund sich an die Arbeit machte. »Sorry, aber die Franzosen werden da auch nichts wissen. Wenn wir das denen erklären müssen, bremst uns das nur. Wir sollten lieber die Schweden kontaktieren. Alicia sagte etwas darüber, sich von Uppsala fernzuhalten. Sie muss ja wohl wissen, dass sich dann erst recht alle dafür interessieren. Die Schweden sind unsere beste Hoffnung, wenn wir dieser Spur folgen wollen.«

»Kennst du irgendjemanden beim schwedischen Geheimdienst?«, Kennedy zog eine Braue hoch, als sie ihn ansah.

»Nein, aber ich kann mal meinen alten Commander anrufen.«

»Wann bist du aus dem SAS ausgeschieden?«

»Man scheidet niemals aus dem SAS aus.« Als Ben hochsah, fügte er hinzu. »Das hab ich zumindest mal gelesen.«

»Drei Köpfe sind besser als einer.« Ben warf Kennedy einen Blick zu. »Wenn du immer noch dabei bist?«

Eine Pause, dann ein Nicken. »Ich helfe euch. Vorerst.« Kennedys Haare fielen ihr in die Augen und sie band sie zu einem Pferdeschwanz zurück. »Diese neun Teile von Odin … da würde mich zuerst interessieren: Wieso wollen die sie haben? Zweite Frage: Was sind die neun Teile?«

»Das haben wir in dem Internetcafé herausfinden wollen.« Ben tippte wie wild auf der Tastatur herum. »Es gibt eine Legende, die unser alter Mann hier für Quatsch hält, und in der es heißt, dass es ein tatsächliches Grab der Götter gibt – einen real existierenden Ort, an dem all die alten Götter begraben sind. Diese Legende passt zu den euhemeristischen Theorien. Oder vielleicht …«, gestand Ben ein, »ist das Grab einfach gefüllt mit Opfergaben an die antiken Götter. Das wissen wir nicht. Aber das ist auch nicht nur eine alte verstaubte Legende – eine Handvoll Akademiker hat darüber debattiert und in den Jahren eine ganze Reihe an Forschungsarbeiten zum Thema veröffentlicht. Das Problem ist, es ist keine einfache Lektüre. Die alten Legenden sind nicht gerade für ihre prosaische Sprache bekannt.«

» Prosaisch? «, wiederholte Kennedy mit einem Lächeln. »Gehst du selbst aufs College?«

»Manchmal, aber er ist auch in einer Band«, warf Drake ein, ohne mit der Wimper zu zucken. »Leadsänger.«

Kennedy zog eine Augenbraue hoch, aber biss nicht an. »Wir haben also ein Grab der Götter, das gar nicht existieren sollte, okay. Und sonst?«

»Wenn das Grab jemals geschändet wird, dann wird die Welt in Feuer untergehen, et cetera, et cetera.«

»Verstehe. Und die neun Teile?«

»Sobald sie in Ragnarök zusammengesetzt werden, weisen sie den Weg zum Grab.«

»Wo ist Ragnarök?«

Drake stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist nur eine falsche Fährte. Es ist kein Ort. Es ist eine Reihe von Ereignissen, eine große Schlacht, die Welt wird von Feuer gereinigt. Naturkatastrophen. So was wie Armageddon.«

Kennedy runzelte die Stirn. »Also hatten auch die tapferen Wikinger die Hosen voll vor der Apokalypse.«

Drake sah nach unten und bemerkte auf dem Boden eine aktuelle, aber sehr zerknüllte Ausgabe von USA Today . Sie war so gefaltet, dass man die Schlagzeile lesen konnte: FREIGELASSENER SERIENKILLER TÖTET ZWEI WEITERE OPFER.

Fies, aber nicht ungewöhnlich für die erste Seite einer Zeitung. Was ihn dazu brachte, einen genaueren Blick darauf zu werfen, war ein Foto von Kennedy in ihrer Polizeiuniform mitten im Text des Artikels. Und die kleinere Schlagzeile neben ihrem Foto: POLIZISTIN AM BODEN ZERSTÖRT – UNTERGETAUCHT.

Er brachte die Schlagzeile in Zusammenhang mit der fast leeren Flasche Wodka auf der Kommode, den Schmerztabletten auf dem Nachtkästchen und dem Fehlen von Gepäck, Stadtplänen, Souvenirs oder einem Plan mit Flugzeiten.