»Sie werden es heute Abend stehlen«, sagte Ben und fügte dann hinzu: »Wahrscheinlich.«
»Und was ist mit New York?« Kennedy schien zwischen Rückzug und Faszination zu schwanken. Vielleicht war das genau, was sie brauchte: Etwas mit dem sie sich von der harschen Wirklichkeit ablenken konnte.
»New York könnte als Nächstes kommen. Ein weiteres der Odin-Artefakte ist im Museum für Naturgeschichte ausgestellt.«
»Aber ihr seid euch nicht sicher?«
Drake studierte einen Plan des Museums und ignorierte die Frage. »Es scheint, dass der Louvre normalerweise keine Wikingersammlungen ausstellt. Die hier ist auch noch geliehen. Hier steht, das größte nordische Artefakt ist das Langboot der Wikinger, eines der am besten erhaltenen, das je entdeckt wurde. Es wird im unteren Stockwerk des Denon-Flügels ausgestellt, in der Nähe von ein paar ägyptischen … koptischen … ptolemäischen … blabla … was auch immer. Es liegt in dieser Richtung.«
Die breiten, gebohnerten Gänge glänzten, während das Trio in der Menge verschwand. Besucher aus der Stadt und Touristen aller Altersklassen bevölkerten das prächtige alte Gebäude.
»Oh Mist, es ist schon 18 Uhr«, sagte Ben.
Sekunden später hörte man einen donnernden Knall, wie eine Betonmauer, die einstürzte. Alle blieben stehen.
Drake sah zu Ben. »Gib uns eine halbe Stunde. Wenn das Museum evakuiert wird, geh‘ einfach zusammen mit der Menge raus. Ich ruf‘ dich an.«
Er wartete nicht auf eine Antwort. Ben war sich der Gefahr bewusst. Drake sah zu, wie er sein Handy rausfischte und einen Schnellwahlbutton drückte. Das war sicher Mom, Dad oder Sis. Er nickte Kennedy zu und sie gingen die Wendeltreppe ins untere Stockwerk hinab. Viele Menschen strömten aus dem Raum, in dem die Wikinger-Ausstellung war. Eine dicke Wolke grauen Rauchs quoll hinter ihnen aus dem Raum.
»Rennt!«, schrie ein Typ mit amerikanischem Akzent, der aussah wie ein Unterwäschemodel. »Da sind Typen mit Waffen drin!«
Kennedy zögerte und wirkte unsicher. »Sollten wir nicht …?«
Drake ging zur Tür und warf einen Blick hindurch. Innen herrschte Chaos. Er zählte acht Männer in Flecktarnuniformen mit Sturmmasken und Sturmgewehren, die in das größte Wikinger-Langboot kletterten, das er je gesehen hatte. Hinter ihnen war in einem Akt unglaublicher Dreistigkeit ein rauchendes Loch in die Seitenwand des Museums gesprengt worden.
Die Typen waren verrückt. Ihre fanatische Entschlossenheit gab ihnen einen klaren Vorteil. Löcher in Wände zu sprengen und Raketen über Menschenmengen zu schießen, schien bei denen die Norm zu sein. Kein Wunder, dass sie Ben und ihn in Paris verfolgt hatten. Eine Autoverfolgungsjagd war für die vermutlich genau das Richtige, um vor dem Zubettgehen ein wenig zu entspannen.
Kennedy legte eine Hand auf Drakes Schulter und linste in den Raum. »Ich glaube, du hast mich eben überzeugt.«
»Das beweist, dass wir auf der richtigen Spur sind. Wir müssen nur näher an den Kommandanten herankommen.«
»Ich will an keinen dieser Wichser nahe herankommen«, fluchte sie mit einem erstaunlich überzeugenden englischen Akzent.
»Süß. Aber ich muss es irgendwie schaffen, dass wir nicht mehr auf deren Mordliste stehen, oder rauskriegen, was die vorhaben.«
Drake bemerkte mehrere Zivilisten, die noch in dem Raum waren und zum Ausgang rannten. Die Deutschen schienen keine Notiz davon zu nehmen, sondern führten nur entschlossen ihren Plan durch, der wohl darin bestand, das Artefakt zu stehlen, wie Drake annahm.
»Komm schon.« Drake drückte sich nahe am Türrahmen vorbei in den Raum. Er nutzte die Ausstellungsstücke am Rand als Deckung, warf einen aufmerksamen Blick auf Kennedy und schlich dann in sicherem Abstand zum Geschehen näher heran.
»Beeilt euch!«, schrie jemand auf Deutsch mit drängender Stimme.
»Sie sollen sich wohl schicken«, sagte Drake. »Die müssen auch schnell sein. Ein Vorfall im Louvre sollte eine rasche Reaktion der Franzosen hervorrufen.«
»Ich habe am Eingang bewaffnete Wachen gesehen«, meinte Kennedy.
Dann schrie ein anderer Deutscher herum und hielt eine Steinplatte in der Größe eines Frühstückstabletts hoch. Sie sah schwer aus. Der wollte, dass ihm jemand half, es über die Reling des Langbootes zu heben.
»Eindeutig keiner vom Regiment«, kommentierte Drake.
»Oder Amerikaner«, stellte Kennedy fest. »Mein Ex war bei den Marines, der hätte sich das Teil einfach unter die Vorhaut geklemmt.«
Drake hustete. »Schönes Bild. Danke für diesen Beitrag. Schau.« Er nickte in Richtung des Lochs in der Mauer, wo gerade ein Mann mit Maske und weißem Anzug erschienen war. »Sieht wie der gleiche Typ aus, der den Schild in New York gestohlen hat.«
Der Mann untersuchte kurz die Skulptur, nickte dann zustimmend und wandte sich an seinen Commander. »Sehr gut, Zeit zu …«
Gewehrfeuer war zu hören. Die Deutschen erstarrten einen Moment, sahen sich verwirrt an. Kugeln schossen durch den Raum und alle suchten Deckung.
Weitere maskierte Männer erschienen im freigesprengten Eingang. Eine andere Truppe, mit anderen Uniformen als die Deutschen.
Drakes erster Gedanke war: Französische Polizei? Bewaffnete Wachmänner?
»Die Kultisten!«, schrie einer der Deutschen verächtlich. »Tötet sie! Tötet sie!«
Drake hielt sich die Ohren zu, als ein Dutzend Automatikwaffen das Feuer eröffnete. Kugeln durchschlugen menschliche Körper, hölzerne Türen und Wände. Glas splitterte und unbezahlbare Ausstellungsstücke wurden in Fetzen geschossen, bevor sie zu Boden krachten. Kennedy fluchte laut und Drake wurde klar, dass sie das wohl öfter tat. »Wo sind die scheiß Franzosen , verdammter Mist?«
Drake schwirrte der Kopf. Kultisten? In was für eine Scheiße waren sie da reingestolpert.
Das Ausstellungsstück neben ihnen zerplatzte in tausend Teile. Glas und Holzsplitter bedeckten ihre Rücken. Drake kroch rückwärts und zog Kennedy mit sich. Das Langboot wurde von Kugeln durchsiebt. Die Kultisten waren in den Raum eingedrungen und mehrere der Deutschen lagen tot oder in Todeszuckungen auf dem Boden. Drake sah, wie einer der Kultisten einem verwundeten Deutschen aus nächster Nähe in den Kopf schoss und eine 3000 Jahre alte ägyptische Terrakotta-Vase mit Blut bespritzte.
»Verrückte Schatzjäger, die sich gegenseitig umlegen«, murmelte Drake. »Bei Tomb Raider habe ich das aber anders in Erinnerung.«
Einer der Deutschen versuchte zu fliehen. Er rannte direkt in Drakes Richtung, ohne ihn überhaupt zu sehen, und erschrak, als sein Weg versperrt war. »Beweg dich!«, sagte er auf Deutsch und hob die Waffe.
»Ja, du kannst mich auch mal.« Drake hielt die Hände nach oben.
Der Finger des Mannes krümmte sich um den Abzug.
Kennedy bewegte sich plötzlich zur Seite und erregte die Aufmerksamkeit des Deutschen. Drake schnellte auf ihn zu und verpasste ihm einen Ellbogen ins Gesicht. Eine Faust flog in Drakes Richtung. Er wich mit einem Schritt zur Seite aus und trat gleichzeitig dem Soldaten gegen das Knie. Der Schrei war nur wenig lauter als das Geräusch brechender Knochen. Drake war eine Sekunde später auf ihm, die Knie auf die Brust des Mannes gepresst. Mit einem kräftigen Griff riss er dem Soldaten die Maske vom Gesicht und schnaufte verächtlich.
»Keine Ahnung, was ich da erwartet habe.«
Blonde Haare. Blaue Augen. Kantige Gesichtszüge. Verwirrter Gesichtsausdruck.
»Bis später.« Drake packte ihn in einem Würgegriff, bis er bewusstlos wurde, und verließ sich darauf, dass Kennedy unterdessen Ausschau nach seinen Kameraden hielt. Als Drake aufblickte, war der Kampf immer noch in vollem Gang. In diesem Moment kam ein weiterer Deutscher um eines der umgestürzten Ausstellungsstücke herumgeschossen. Drake schubste ihn mit der Schulter zur Seite und Kennedy rammte ihm das Knie gegen den Solarplexus. Der Mann ging zu Boden.
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