Robert Ludlum
Das Bourne Vermächtnis
Chalid Murat, der Führer der tschetschenischen Rebellen, saß unbeweglich im mittleren Fahrzeug der kleinen Kolonne, die sich ihren Weg durch die zerbombten Straßen von Grosny bahnte. Die Schützenpanzer BTR-60 BP stammten aus russischen Beständen, sodass der Konvoi als solcher sich nicht von all den anderen unterschied, die auf Streifenfahrt durch die Stadt rasselten. Murats schwer bewaffnete Männer hockten in den beiden anderen Fahrzeugen — eines vor und eines hinter seinem eigenen. Sie waren zum Krankenhaus Nummer neun unterwegs, das zu den sechs oder sieben Verstecken gehörte, die Murat benützte, um drei Schritte vor den russischen Truppen zu bleiben, die nach ihm fahndeten.
Murat hatte einen schwarzen Vollbart, die tapsigen Bewegungen eines Bären und den feurigen Blick eines wahren Eiferers. Er hatte frühzeitig gelernt, dass man nur mit eiserner Faust herrschen konnte. Er war dabei gewesen, als Jochar Dudajew erfolglos die Scharia, das religiöse Gesetz des Islams, eingeführt hatte. Er hatte das Blutbad erlebt, mit dem alles angefangen hatte, als von Tschetschenien aus operierende Kriegsherren, ausländische Verbündete Osama bin Ladens, in Daghestan eingefallen waren und in Moskau und Wolgodonsk Bombenanschläge hatten ausführen lassen, denen zweihundert Menschen zum Opfer gefallen waren. Als diese von Ausländern verübten Anschläge fälschlicherweise tschetschenischen Terroristen zugeschrieben wurden, hatten die Russen mit ihren verheerenden Bombenangriffen auf Grosny begonnen und große Teile der Hauptstadt in Trümmer gelegt.
Der Himmel über der Stadt war verschleiert, durch ständige Zufuhr von Asche und Schlacke getrübt; in dem Dunst entstand ein schimmerndes Leuchten, das so stark war, dass es fast radioaktiv wirkte. Überall in der Trümmerlandschaft brannten blakende Ölfeuer.
Chalid Murat starrte durch die getönte Panzerglasscheibe, als die Kolonne am ausgebrannten Skelett eines Gebäudes vorbeirollte: massiv, imposant aufragend, das dachlose Innere von flackernden Flammen erfüllt. Er grunzte, wandte sich an seinen Stellvertreter Hassan Ar-senow und sagte:»Grosny war einst die Heimatstadt von Liebespaaren, die auf den breiten, von Bäumen gesäumten Boulevards flanierten, von Müttern, die Kinderwagen über die begrünten Plätze schoben. Der große Zirkus war jeden Abend ausverkauft, voller fröhlicher, lachender Gesichter, und Architekten aus aller Welt pilgerten hierher, um die prachtvollen Gebäude zu sehen, die Grosny einst zu einer der schönsten Städte der Welt gemacht haben.«
Er schüttelte trübselig den Kopf, schlug dem anderen kameradschaftlich aufs Knie.»Allah, Hassan!«, rief er aus.»Sieh es dir genau an! Die Russen haben alles zerstört, was gut und schön war!«
Hassan Arsenow nickte. Er war ein lebhafter, energischer Mann, volle zehn Jahre jünger als Murat. Als ehemaliger Biathlet hatte er die breiten Schultern und schmalen Hüften eines geborenen Athleten. Als Murat zum Führer der Rebellen aufgestiegen war, hatte Arse-now ihn begleitet. Jetzt machte er Murat auf ein ausgebranntes Gebäude rechts vor ihnen aufmerksam.»Vor dem Krieg«, sagte er nachdrücklich ernst,»als Grosny noch ein Raffineriezentrum war, hat mein Vater dort im Öl-Institut gearbeitet. Statt Gewinnen aus der Ölförderung bekommen wir jetzt Großbrände, die unsere Luft und unser Wasser verunreinigen.«
Die beiden Aufständischen verfielen angesichts der ausgebombten Gebäude, zwischen denen sie hindurchfuhren, und der leeren Straßen, über die nur Aasfresser — menschliche und tierische — huschten, in bedrücktes Schweigen. Als sie sich wenige Minuten später einander zuwandten, stand Schmerz über die Leiden ihres Volkes in ihrem Blick. Murat wollte etwas sagen… und erstarrte dann, weil unverkennbar Geschosse gegen ihr Fahrzeug prasselten. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass der Schützenpanzer mit Handfeuerwaffen beschossen wurde, deren Geschosse die massive Panzerung jedoch nicht durchschlagen konnten. Arsenow, stets wachsam, griff nach dem Mikrofon ihres Funkgeräts.
«Ich lasse die Besatzung unserer Begleitfahrzeuge zurückschießen.«
Murat schüttelte den Kopf.»Nein, Hassan. Überleg doch! Wir fahren zur Tarnung in russischen Uniformen mit russischen Schützenpanzern. Wer uns beschießt, ist eher ein Verbündeter als ein Feind. Das müssen wir feststellen, bevor wir das Blut von Unschuldigen vergießen.«
Er nahm Arsenow das Mikrofon aus der Hand und ließ die Fahrzeuge halten.
«Leutnant Gotschijajew«, sagte er über Funk,»schicken Sie einen Stoßtrupp zur Erkundung los. Ich will wissen, wer uns beschießt, aber den Schützen soll nichts geschehen.«
Im Führungsfahrzeug befahl Leutnant Gotschijajew seinen Männern, in Deckung des bewaffneten Konvois auszuschwärmen. Er folgte ihnen auf die mit Trümmern übersäte Straße hinaus, zog in der schneidenden Kälte die Schultern hoch. Mit präzisen Handzeichen dirigierte er seine Männer so, dass sie die vermutliche Feuerstellung auf beiden Seiten umgingen.
Die Männer waren gut ausgebildet: Sie bewegten sich rasch und lautlos von Trümmerbrocken zu Mauerresten und zu verbogenen Metallträgern hinüber, blieben stets geduckt und boten so möglichst kleine Ziele. Allerdings fielen keine weiteren Schüsse. Den abschließenden Angriff begannen sie gemeinsam: eine Zangenbewegung, die den Gegner einschließen und durch mörderisches Kreuzfeuer vernichten sollte.
Im mittleren Fahrzeug beobachtete Hassan Arsenow weiter die Stelle, auf die Gotschijajews Männer zuhielten, und wartete auf eine wilde Schießerei, doch die Feuerstöße aus den Sturmgewehren blieben aus. Stattdessen tauchten in der Ferne Kopf und Schultern des Leutnants auf. Mit Blick zu dem mittleren BTR-60 BP bewegte er den erhobenen rechten Arm bogenförmig, um zu signalisieren, das Gebiet sei gesichert. Auf dieses Zeichen hin zwängte Chalid Murat sich an Arsenow vorbei, stieg aus dem Schützenpanzer und marschierte ohne zu zögern durch die kältestarren Ruinen auf seine Männer zu.
«Chalid Murat!«, rief Arsenow besorgt und lief hinter seinem Anführer her.
Murat hielt jedoch sichtlich unbekümmert auf einen niedrigen Mauerrest zu, hinter dem die Schüsse abgegeben worden waren. Sein Weg führte an mehreren Müllhaufen vorbei; auf einem lag ein weißer Leichnam mit wächserner Haut, der schon vor einiger Zeit seiner Kleidung beraubt worden war. Selbst aus größerer Entfernung traf einen der Verwesungsgestank wie ein Keulenschlag. Arsenow holte Murat schließlich ein und zog seine Pistole.
Als Murat den Mauerrest erreichte, standen seine Männer mit schussbereiten Waffen rechts und links davon aufgebaut. Der böige Wind pfiff und heulte durch die Ruinen. Der metallisch düstre Himmel verfinsterte sich noch mehr, und es begann zu schneien. Eine dünne Schneeschicht bedeckte rasch die Kappen von Murats Stiefeln und bildete ein Netz im drahtigen Gewirr seines Vollbarts.
«Leutnant Gotschijajew, Sie haben die Angreifer aufgespürt?«
«Das habe ich.«
«Allah leitet mich in allen Dingen; er leitet mich auch diesmal. Lassen Sie sie mich sehen.«
«Es ist nur einer«, antwortete Gotschijajew.
«Einer?«, rief Arsenow.»Wer? Hat er gewusst, dass wir Tschetschenen sind?«
«Ihr seid Tschetschenen?«, fragte eine dünne Stimme. Hinter der Mauer tauchte das blasse Gesicht eines Jungen von kaum mehr als zehn Jahren auf. Er trug eine schmutzige Wollmütze, einen durchgewetzten Pullover über mehreren karierten Hemden, eine geflickte Hose und viel zu große rissige Gummistiefel, die er vermutlich einem Toten ausgezogen hatte. Obgleich er noch ein Kind war, hatte er die Augen eines Erwachsenen; sie beobachteten alles mit einer Mischung aus Vorsicht und Misstrauen. Er stand schützend über einer nicht detonierten russischen Rakete, die er geborgen hatte, um Brot kaufen zu können — vermutlich das Einzige, was zwischen seiner Familie und dem Hungertod stand. In der linken Hand hielt er eine Pistole; sein rechter Arm endete am Handgelenk. Murat sah gleich wieder weg, aber Arsenow starrte den Armstumpf weiter an.
Читать дальше