Mit eiserner Disziplin hat Kaltenbrunner persönlich in seinem verschwiegenen Haus im Ölmättle in Kandern jenes bescheidene, zurückgezogene und naturnahe Leben geführt, welches ihm gewissermaßen als Sandkorn im größenwahnsinnig arbeitenden Getriebe der globalen Ökokatastrophe erschien. Immer wieder verweist er daher auch auf faszinierende Denker wie zum Beispiel Emil M. Cioran (1911–1995). Wenngleich er dessen nihilistisches Gedankengut keineswegs teilt, so bestätigt er ihm, ein furioser Kritiker des Fortschrittsglaubens zu sein. Lange bevor das Gerede vom Untergang der Erde en vogue war, geißelte der Rumäne in schmalen Bänden („Lehre vom Zerfall“, „Syllogismen der Bitterkeit“, „Dasein als Versuchung“, „Der Absturz in die Zeit“) den Utopismus seiner Zeitgenossen. Gesprächsweise hat sich Cioran äußerst lobend über Kaltenbrunners essayistisches Werk geäußert.
Europäische Menschen, in denen der abendländische Geist lebendig ist, die über eine seelische Bindung an das Heilige Deutsche Reich verfügen, ortet Kaltenbrunner sensibel in Gestalten wie dem Philosophen und Bibelübersetzer Franz Rosenzweig (1886–1929) und dem ungekrönten König der Münchner Bohème, dem Dichter des George-Kreises Karl Wolfskehl (1869–1948). Letzteren nennt er einen erzdeutschen Juden und erzjüdischen Deutschen. Er zitiert in diesem Zusammenhang Fritz Usinger, der in München als junger Student dem faszinierenden, weit älteren Poeten begegnete und nach dessen Tod im australischen Exil schrieb: „Ich finde es unendlich traurig, daß man dieses herrlichen Mannes in Deutschland so gar nicht gedenkt. Da liegt so ein Mann, der Deutschland über alles geliebt hat, in einem einsamen Grab am anderen Ende der Welt. Welche Liebesqualen muß er ausgestanden haben und mit welchem Gefühl der völligen Verlassenheit muß er gestorben sein! Er hat das gewaltigste Gedicht der deutschen Emigration geschrieben, den ‚Sang an die Deutschen‘. Aber das ist alles so gut wie nicht da, der Mann sowohl, als auch seine Gedichte.“ (zitiert nach: „Vom Geist Europas“, Bd. 2)
Immer wieder hob man hervor, dass Kaltenbrunners kultivierte Sprachschöpfungen einen Lesegenuss par excellence darstellen. Selbstverständlich wurde auch das Gegenteil behauptet: nerviges Namedropping, eigenwillige Diktion. Wie der Essayist selbst immer wieder bekundete, werden große Geister oft von allen Seiten kritisiert. Die Kunst, Sprache so zu gebrauchen, dass neue Aspekte der Wirklichkeit aufscheinen, wird zweifellos in geistigen Debatten geschult. Denkkraft und daraus resultierende geschliffene Formulierung entwickeln sich im vertrauten Umgang mit Philosophie, Psychologie und Literatur. So blitzt in dem Essay über den hellsichtigen, von faustischem Streben beseelten Naturforscher Emanuel Swedenborg (1688–1772) im Gewand des Absichtslosen, ja drollig Verspielten feinster Humor auf. Der makabren, wenngleich sich ernsthaft gebärdenden, durch den Arzt Franz Joseph Gall begründeten Wissenschaft der Phrenologie (Schädelkunde) fiel letztlich Swedenborgs Haupt zum Opfer, um nach unbeschreiblichen Irrungen und Wirrungen schließlich am 6. März 1978 bei Sotheby’s versteigert zu werden. Die kopfjägerische Sammelleidenschaft persifliert Kaltenbrunner: „Vermögende Liebhaber trachteten nicht nur nach verblichenen prominenten Häuptern, sondern verhandelten vorsorglich auch schon mit lebenden Köpfen, um sich deren postmortalen Besitz zu sichern. Empfindsame Schöngeister wurden zunehmend kopfscheu, da sie nicht einmal in geselligen Kränzchen oder intimen Zusammenkünften damit rechnen konnten, vor der Zudringlichkeit sich wissenschaftlich tarnender Skalpjäger gefeit zu sein. … Ob der hellseherische Schwede, der in so vielen okkulten Dingen bewandert war, auch diese Odyssee seines zum Auktionsobjekt herabgewürdigten Schädels vorausgewußt hat? Wenn er aber, so wie es für ihn bis zuletzt feststand, jetzt erdentrückt bei den Cherubim und Seraphim weilt, mit ihnen Gottgeheimnis und Welträtsel spitzfindig erörternd, dann wird er wohl wegen des Schicksals seines irdischen Schädels nicht den himmlischen Kopf verlieren, sondern dafür nur ein ätherisches Lächeln übrig haben.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2)
Zeit und Ewigkeit, Politik und Metapolitik, Staatsformen und Mystik: All dies war dem gelehrten Publizisten und geistigen Abenteurer Kaltenbrunner Allgegenwart. Er übte sich in einer Art mentaler Fechtkunst, die dann wohl auch eine Vielzahl von Namen elegant mit dem scharfgeschliffenen Florett der Sprache berührte. Einerseits verband er mit Namensnennungen eine Art Hommage gegenüber Lebenden und Verstorbenen, andererseits pflegte er einen gewissen gedanklichen Radius damit zu umschreiben. Immer wieder erstaunen seine lebendigen Synthesen, die Zeiträume und unterschiedliche Gestalten wertend umfassen, aber auch Ambivalenzen von Denkern und deren Lebenswerk berücksichtigen. So schlägt er den Bogen bis zu Schellings Identitätsphilosophie und Alfred North Whiteheads Metaphysik.
Diese streiflichtartigen Überlegungen schließen bewusst mit dem Hinweis auf den kurzen, hochkarätigen Essay über den „Homer der Insekten“ Jean-Henri Fabre (1823–1915), Autor der unerschöpflichen „Souvenirs entomologiques“. Dieser begnadete Naturbeobachter und Entomologe (Kaltenbrunner nennt ihn einen eigenbrötlerischen Kauz und eine Figur à la Spitzweg) erforschte mit akribischer Neugier die instinkthaften Lebensgewohnheiten der Insekten. Vom „dämonischen Liebesleben der männermordenden Mantis“ bis zu den keineswegs immer feinen kulinarischen Genüssen der Marienkäfer reichen seine Forschungen. Man stelle sich diesen vom „Geheimnis des Organischen“ ergriffenen Chronisten der Insektenwelt, den kein Geringerer als Adolf Portmann mit dem visionären Höllenmaler Hieronymus Bosch vergleicht und ihm eine analoge Genialität auf naturwissenschaftlichem Gebiet bescheinigt, leibhaftig vor. Gleicht er in seinem Forscherdrang nicht dem entflammten temperamentvollen Idealisten im Ölmättle zu Kandern?
Mit einem uralten Text von Paracelsus (1493–1541) wollen wir unsere Einführung beschließen. Theophrastus Bombast von Hohenheim, ein beispiellos elementenkundiger Mann, gleicht in seiner ärztlichen Theosophie der fernen und doch unmittelbar geistesverwandten Naturforscherin Hildegard und ihrer theosophisch untermauerten Medizin. Der Begriff der viriditas, der Grünheit, spielt bei der Äbtissin eine zentrale Rolle. Und lichtes, sprossendes Grün fand sich als bestimmende Farbe in Kaltenbrunners Haus, in seinem Umfeld. „Vielleicht grünet, was ietzt hierfür keimet, mit der Zeit.“
Sinngemäß schreibt Hildegard in ihrer Lehre von den Welt-Elementen, dass das ganze Weltgefüge im Dienste des Lichtes stehe. Die Erde als Mitte zwischen den übrigen Elementen sei von diesen in ihrer Mitte gehalten und verbunden, zu ihrer Erhaltung beständig gespeist von Grünkraft (viriditas) und Zeugungskraft (fortitudo).
So schließt sich denn der Kreis. Gärtner kennen das beseligende Gefühl, wenn endlich das Saatkorn, welches der dunklen Erde anvertraut wurde, keimt. Nadelspitz durchstößt das neue Leben die harte Kruste. Es mehren sich die Anzeichen, dass jene Goldkörner, welche kundige Leser im Schrifttum des so früh verstorbenen Wahleremiten aufspüren, keimen und grünen werden. Der blühende Lebensraum, gepaart mit dem geistdurchwehten Flair eines büchergefüllten Hauses, erfüllte die letzten Lebenstage des Zeitdiagnostikers Kaltenbrunner. Auf seinen Nachruhm angesprochen hätte er wohl mit Paracelsus geantwortet:
„Selig werden die Leut sein / zu den selbigen Zeiten / denen der Verstand geoffenbart wird werden: Denn alle Herzen der Menschen / was sie auch hervorgebracht haben / wird offenbar / als stünd’s einem jeglichen an seiner Stirn. Auf die selbige Zeit befehl ich auch das Urteil meiner Schriften / dass nichts verhalten bleibe / wie dann geschehen werde. Denn Gott setzt das Licht offenbar / das ist / ein jeglicher wird sehen / wie es geleuchtet hat.“ („Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus“)
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