So werden wir versuchen, in den hier vorgestellten Texten Zeitkritisches und bekenntnishaft Biografisches aufzuspüren. Wir wissen heute, dass Europa in all seinem Reichtum, seiner Größe, durch ein falsches Verständnis seiner selbst gefährdet ist. Dies stellt auch die sogenannte Pariser Erklärung aus dem Jahre 2017 fest, die allerdings einem naiven Vernunftvertrauen huldigt und die Komplexität der Probleme des christlichen Abendlandes nicht durchschaut. Nochmals sei hier der große „Gegendenker“ Leopold Ziegler genannt. Seine 1995 neu aufgelegte Schrift „Der europäische Geist“ (erstveröffentlicht 1929) stigmatisiert das Fatum Europas: nämlich die Verwissenschaftlichung des Geistes wie des Lebens, den Verlust des Göttlichen und die damit einhergehende Säkularisierung. Sensible Zeitgenossen dachten ähnlich. Zu nennen wären u. a. Fritz Usinger („Gesänge für Europa“) und Friedrich Franz von Unruh. Letzterer schreibt: „Die Macht aber, die von alters her bestellt ist, den menschlichen Standort zu festigen, die Religion, ist der veränderten Situation nicht gewachsen. Sowohl Christentum wie Islam sind einem Weltbild verhaftet, das die Erde als Mitte des Alls und den Menschen als Sinn und Krönung der Schöpfung versteht. … Durch die alten verhärteten Dogmen hindurchzustoßen und ein tieferes Gottbegreifen und tiefere Ehrfurcht zu lehren, ist der Kirche verwehrt, sie verlöre die Basis“. („Die Macht der Dichtung“) Wir können aus diesen Überlegungen folgern, dass heute das Scheitern des Christentums nicht gegen dieses spricht, sondern einen Mangel seelischer Kultur offenbart. Ziegler warnt davor, die Wiederverchristlichung Europas als eine Wiederverkirchlichung aufzufassen. „Dieses von Neuem entstehende Heilige Reich wird nicht mehr kirchlich überwölbt sein, sondern im Sinne einer überkirchlichen Wiederverchristlichung Leib gewinnen.“ (Bemerkungen zur Neuausgabe von „Der europäische Geist“)
Drei Traditionsströme begründen, mannigfach vermischt, die unverwechselbare Eigenart Europas: griechisches Denken, römischer Realismus und Tatsachensinn sowie das christliche Erbe, welches den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der Freiheit, der Brüderlichkeit, der geistbegabten Personalität, der Erlösungsbedürftigkeit und der erbarmenden Liebe vertritt. Kaltenbrunner postuliert, dass eine übergreifende europäische Völkerordnung ganz im Sinne Johann Gottfried Herders symphonisch orchestriert sein müsste. Den kulturgeografischen Bogen spannt er von Portugal bis Russland, von Sizilien bis Polen, vom Baltikum bis Rumänien.
Zu den Stiftern europäischer Geistigkeit gehören zweifellos Pythagoras – Kosmosoph der sogenannten „Achsenzeit“ (Karl Jaspers), Ordensgründer, Zyklen-Theoretiker, Künder der Musik der Sphären – und Hesiod, der weissagende Seher, der die Götter belauschte. Die dialogische Wahrheitssuche des Sokrates erscheint in platonischem Gewand, in einem Todesverständnis, welches als Freilegung des ideenhaften Prinzips in uns, somit als lebensbildende Philosophie gelten darf. Der universelle platonische Geist blitzt auf, seine Freude am Denken und die staunenswerte Feinfühligkeit für das Wunderbare.
„Sooft uns Platon lächelt, wird es aufgeräumter, heller und freundlicher in Europa“, schreibt Kaltenbrunner und verweist darauf, dass dem unschuldig verurteilten Christen Boethius die Trost spendende Philosophie im platonischen Gewand erscheint, mit dem gebieterischen Aufruf, das Höchste zu wagen. Als besonderes Qualitätsmerkmal des vielstimmigen Gesprächs in diesen Essays tritt die innere Verbindung zwischen Personen, Zeiten und Landschaften in Erscheinung. Stifters „Sanftes Gesetz“ wird im „Trost der Philosophie“ des eingekerkerten Römers vorweggenommen und das kosmo-theologische Gebet in der Mitte der „Consolatio“ enthält – so Kaltenbrunner – den Grundriss von Dantes Weltbild und seiner „Göttlichen Komödie. In dem Aufsatz über die Indoeuropäer erfahren wir, dass es Spuren einer kollektiven Erinnerung an eine Heimat in nördlichen Gebirgen gibt, und das baltische Lettland entzückt als verschwiegener Raum hoher Poesie.
Den Reigen großer Dichtergestalten eröffnen Vergil, der Schöpfer der „Bucolia“, „Georgica“ und „Aeneis“, der stille Sänger des Augusteischen Friedens und des „ewigen Italiens“, sowie Ovid – Urheber des Weltgedichtes der „Metamorphosen“ –, verbannt zu den barbarischen Geten ans Schwarze Meer. An den Pontos Euxinos der Alten grenzt das Dreiecksland Georgien. Um 1200 lebte dort Schota Rustaweli, Dichter, Astronom und Finanzminister der Königin Thamar. In dem Hohelied der Liebe „Der Recke im Tigerfell“, welches 2013 zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde, huldigt er seiner ruhmreichen Königin, besingt den Sieg des Lichtes über die Finsternis, des Mutes über die Verzweiflung. Ein ganz anderer Weltroman entsteht in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in dem vom Dreißigjährigen Krieg verheerten Deutschland: „Der abenteuerliche Simplicissimus“ des sich hinter einer Vielzahl von Decknamen verbergenden Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Kaltenbrunner bescheinigt diesem monströsen Werk eine wahrhafte „Simplicität“, eine gottkindliche Einfalt, die in barocker Bilderträchtigkeit und Wortmacht zur Sprache kommt. Eigenwillig und souverän beurteilt der ungemein belesene Essayist Gestalten wie Novalis, den er einen „konservativen Revolutionär“ nennt, oder Justinus Kerner, Arzt, Dichter und Geisterseher, Gesprächspartner von Görres und Franz von Baader. Das Werk des 1936 in Salamanca verstorbenen Dichter-Philosophen Miguel de Unamuno, des großen Gegenspielers Ortega y Gassets, bleibt für den Schriftsteller im Schwarzwald ein Desiderat: „die verlegerische Wiederentdeckung ist mein Wunschtraum“. Den „prince des poètes français“, Pierre de Ronsard, feiert er als „griechischsten“ der Franzosen. Transsilvanien (Siebenbürgen) ist die Heimat des Rumänen Lucian Blaga, des tragischen Dichters in tragischer Zeit. Er wird als Visionär hellsichtiger Ekstasen gerühmt. Der tschechische Dichter Otokar Brezina, der eigentlich Václav Ignác Jebavý hieß, der den Gedanken der Brüderlichkeit aller Menschen in einer Art planetarischer Geschwisterlichkeit vertritt, bezaubert mit seinem hymnischen Werk, seiner kühnen Metaphorik und freien Rhythmik.
Aus mehreren Gründen ist der Essay über Edward Gibbon von besonderer Bedeutung. Amüsante autobiografische Einschübe entführen den Leser in die von lateinischer Kultur und römischem Flair durchwobene Kindheit Kaltenbrunners: „Wenigstens zur Hälfte habe ich mich von Kindesbeinen an für einen Römer gehalten“. Die fast mit Händen zu greifende Präsenz üppigen römischen Erbes findet der Autor gewissermaßen vor der Haustüre. Er schürft aber weit tiefer, denn er entwickelt facettenreich den Gedanken des „Ewigen Roms“. Wien als Sitz der Habsburger bewahrte die Reichstradition und setzt in einer „translatio imperii“ den Gedanken des Heiligen Römischen Reiches fort. Eine Art Mutation zum „imperium spiritualis“, möglicherweise konvergierend mit dem Reich des Heiligen Geistes, welches der Seher Abt Joachim von Fiore weissagte: All das wird in verschlungenen und vielfach sich ergänzenden und überschneidenden Gedankenverbindungen expliziert. So kommt denn auch die Idee des Kronenwächters (Achim von Arnim) zur Sprache: „Die wahren Kronenwächter sind keine ränkespinnende Kamarilla und auch keine politische Sekte, sondern all jene, die im stillen (und vielfach mißverstanden) all das zu erhalten und zu fördern trachten, was uns nach allen Katastrophen noch geblieben ist, die einzige Bastion gegen Selbstentfremdung und Würdelosigkeit: unsere Sprache, die tätige Erinnerung an die Höhepunkte unserer Kultur, die person-und nationstiftende Aneignung des in mehr als einem Jahrtausend angesammelten geistigen Erbguts, auf daß unter einem günstigeren Stern darauf wieder einmal etwas Ordentliches nachwachsen könne.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 3)
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