183Relevant wird die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht nur für die Frage, welcher Tatbestand anzuwenden ist (Bsp.: vorsätzlicher Totschlag, § 212 StGB, oder fahrlässige Tötung, § 222 StGB), sondern vor allem auch dann, wenn der tatbestandliche Erfolg nicht eingetreten ist. Während bei Annahme eines (Tötungs-)Vorsatzes eine Strafbarkeit wegen eines Versuchs in Frage kommt, bleibt der Täter im Falle der Annahme bloßer Fahrlässigkeit straffrei, da der Versuch eines Fahrlässigkeitsdelikts schon konstruktiv nicht denkbar ist. 74
184Je nachdem, wie stark die eben dargestellten Elemente des Wissens und Wollens ausgeprägt sind, kann man zwischen verschiedenen Vorsatzarten unterscheiden. Dabei ist davon auszugehen, dass sowohl im Wissens- als auch im Wollensbereich drei verschiedene Grenzwerte existieren, zwischen denen jedoch graduelle Abstufungen möglich sind.
185Im Wissensbereichsind Abstufungen denkbar vom sicheren Wissenum die Tatbestandsverwirklichung über das Für-Möglich-Halten(= der Täter rechnet damit, dass er den Tatbestand erfüllt, bzw. hält dies für wahrscheinlich) bis hin zum Nichtwissen(= der Täter rechnet nicht im Geringsten damit, den gesetzlichen Tatbestand zu erfüllen).
186Im Wollensbereichkann differenziert werden zwischen dem zielgerichteten Wollen(= dem Täter kommt es gerade darauf an, einen Tatbestand zu erfüllen) über das bloße „In-Kauf-Nehmen“eines Erfolges bis hin zum Nichtwollen.
187Diese Elemente sind nun beliebig kombinierbar. Unproblematisch dem Bereich des Vorsatzes zuzuordnen sind die Fälle, in denen der Täter um die Tatbestandserfüllung sicher weiß und diese auch will. Problematisch sind diejenigen Fälle, in denen im Wissens- oder Wollensbereich Defizite festzustellen sind. Dabei kann allerdings ein sicheres Wissen auch Defizite im Wollensbereich ausgleichen, während ein zielgerichtetes Wollen Defizite im Wissensbereich auszugleichen vermag. Lediglich dann, wenn der Täter sowohl im Wissens- als auch im Wollensbereich Defizite aufweist, ist eine Abgrenzung zur (bewussten) Fahrlässigkeit erforderlich. Hieraus ergeben sich die nachfolgenden Arten des Vorsatzes. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass immer dann, wenn der Tatbestand keine Sonderregelungen enthält, jede Form des Vorsatzes (also auch bedingter Vorsatz) ausreicht, um eine Verurteilung wegen einer Vorsatztat zu ermöglichen.
188Dominiert das Wissen darüber, dass der tatbestandsmäßige Erfolg eintreten wird, liegt selbst dann, wenn dem Täter der Erfolg eigentlich unangenehm ist oder er den Erfolg nicht will, ein vorsätzliches Verhaltenvor. Man spricht hier auch vom Vorliegen eines „direkten Vorsatzes“ oder „dolus directus 2. Grades“. Hinzuweisen ist darauf, dass manche Tatbestände gerade ein „wissentliches“ Verhalten (z. B. bei der Strafvereitelung, § 258 StGB) oder ein Handeln „wider besseres Wissen“ (z. B. bei der falschen Verdächtigung, § 164 StGB) voraussetzen.
Bsp.:Anton will sein gegen Feuer versichertes Haus in Brand setzen, um die Versicherungssumme zu kassieren. Er weiß dabei, dass seine Großmutter Gerda, die im 4. Stock wohnt und die seit Jahren das Haus nicht mehr verlassen hat, dabei den sicheren Tod finden wird. Dies ist ihm zwar höchst unangenehm, er entschließt sich aber dennoch zur Tat. Gerda stirbt. – Obwohl ihm der Tod Gerdas höchst unangenehm war, handelte Anton dennoch mit sicherem Wissen, dass sie infolge seines Verhaltens sterben würde. Dies reicht für den Vorsatz aus.
189Dominiert hingegen das Wollenselement, liegt also ein zielgerichtetes Wollen im Hinblick auf die Erfüllung des Tatbestandes bzw. einzelner Tatbestandsmerkmale vor, so ist unabhängig vom Grad des Wissens, d. h. selbst dann, wenn der Täter den tatbestandlichen Erfolg nur für „möglich“ oder gar für unwahrscheinlich hält, eine Absichtgegeben. Man spricht hier auch vom Vorliegen eines „dolus directus 1. Grades“. Auch hier gibt es Tatbestände, die ausdrücklich eine solche Absicht verlangen (z. B. die „Zueignungsabsicht“ beim Diebstahl, § 242 StGB) oder jedenfalls durch die Formulierung „um zu“ eine zweckbestimmtes Verhalten fordern (z. B. liegt dann ein Mord vor, wenn der Täter handelt: „um eine andere Straftat zu ermöglichen“, vgl. § 211 Abs. 2 3. Gruppe, 1. Variante StGB). In diesen Fällen ist die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals also gerade der Hauptzweck des Handelns des Täters.
Bsp.:Anton ist ein furchtbar schlechter Schütze und hat zudem seine Brille nicht auf. Dennoch ist er fest entschlossen Rudi, den Liebhaber seiner Frau, zu töten, sobald dieser das Gartentor durchschreitet. Als Rudi kommt, schießt er auf ihn, obwohl er davon ausgeht, er müsse schon großes Glück haben, um zu treffen. Er hat jedoch Glück und trifft Rudi, welcher auf der Stelle verstirbt. – Obwohl im Wissensbereich einige Defizite zu verzeichnen sind (Anton hielt die Tatbestandserfüllung für nicht sehr wahrscheinlich), reicht dies für ein vorsätzliches Verhalten aus. Es liegt hier ein (Tötungs-)Vorsatz in der Form von „Absicht“ vor.
190Die Absicht muss dabei nicht auf das Endziel des Handelns gerichtet sein. Es reicht aus, wenn der Täter die Tatbestandserfüllung als notwendiges Zwischenziel seines Verhaltens erstrebt (so z. B., wenn er eine Sache in Zueignungsabsicht wegnimmt, um damit eine weitere Straftat zu begehen oder einen Menschen tötet, um an die Lebensversicherungssumme zu kommen).
191Sind weder das Wissens- noch das Wollenselement stark ausgeprägt, hält der Täter die Tatbestandsverwirklichung jedoch für möglich und nimmt er den Erfolg auch billigend in Kauf, spricht man von einem bedingten Vorsatz(auch Eventualvorsatz oder „dolus eventualis“). Auch dieser reicht für die Annahme eines Vorsatzes üblicherweise aus. Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn der jeweilige Tatbestand ausdrücklich eine „stärkere“ Vorsatzform (Absicht, Wissentlichkeit) verlangt. In diesem Bereich bestehen nun die bereits angesprochenen Probleme in der Abgrenzung zur (bewussten) Fahrlässigkeit. Nach der oben genannten Billigungstheorie ergeben sich dabei folgende Begriffsbestimmungen 75:
Definition
Bedingter Vorsatzliegt vor, wenn der Täter mit der Möglichkeit der Tatbestandserfüllung rechnet (Wissenselement) und den Erfolg billigend in Kauf nimmt bzw. sich mit ihm abfindet oder ihm das weitere Geschehen gleichgültig ist (Wollenselement). Der Täter muss sich also sagen: „Na wenn schon“.
Definition
Bewusste Fahrlässigkeitist anzunehmen, wenn der Täter zwar mit der Möglichkeit der Tatbestandserfüllung rechnet (Wissenselement), dabei aber auf das Ausbleiben des Erfolges vertraut (Wollenselement). Der Täter muss sich also sagen: „Hoffentlich passiert nichts“.
Bsp.:Anton schlägt Bruno eine Bierflasche über den Kopf und will ihn dabei an sich nur erheblich verletzen und nicht töten. Dennoch stirbt Bruno an den Folgen des Schlages. – Sofern Anton damit rechnete, dass sein Schlag tödlich sein könnte, und er trotzdem meinte, dann hätte Bruno eben „Pech“ gehabt, nahm er den Erfolg wenigstens billigend in Kauf und handelte mit bedingtem Vorsatz.
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