153Auch hier bekommt man mit der conditio-sine-qua-non-Formel Schwierigkeiten. Lediglich dann, wenn man Fritz das Verhalten der übrigen Vorstandsmitglieder im Wege einer Mittäterschaft über § 25 Abs. 2 StGB zurechnen kann, 57ist an einer Kausalität nicht zu zweifeln. Ist dies nicht möglich, muss hier entweder mit der Rechtsfigur der alternativen Kausalität argumentiert werden oder es darf nicht auf das bloße Abstimmungsergebnis abgestellt werden. Das Verhalten, welches man dem Täter nämlich zudem vorwerfen kann, ist, dass er sich im Vorfeld der Abstimmung nicht aktiv dafür eingesetzt hat, den Vertrieb zu stoppen. In diesem Fall ist es auch gleichgültig, ob der Täter bei der entscheidenden Abstimmung dafür oder dagegen gestimmt hat oder ob dies nicht mehr festgestellt werden kann. Auch kann man ihm weiter vorwerfen, sich nach der Abstimmung nicht aktiv für einen Vertriebsstopp engagiert zu haben. Auch hier müsste dann jedoch die Kausalität dieses Unterlassens im Hinblick auf den eingetretenen Erfolg festgestellt werden, sofern man hier nicht von einem mittäterschaftlichen Unterlassen ausgeht.
Literaturhinweise
Ebert/Kühl , Kausalität und objektive Zurechnung, JURA 1979, 561 (ausführliche, studierendengerechte Darstellung mit Beispielsfällen); Erb , Die Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht, JuS 1994, 449 (verständliche Einführung); Kudlich , Objektive und subjektive Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht – Eine Einführung, JA 2010, 681 (kürzere Darstellung mit Beispielen)
BGHSt 4, 360– Rotlicht (zur Frage der Kausalität bei fahrlässigem Dazwischentreten Dritter); BGHSt 7, 112– Wettfahrt (zur Kausalität bei Mitverschulden des Opfers); BGHSt 30, 228– Massenkarambolage (zur Unbeachtlichkeit der hypothetischen Kausalität); BGHSt 37, 106– Lederspray (zur Frage der Kausalität bei Gremienentscheidungen); BGHSt 39, 195– Zwei Schüsse (zur alternativen Kausalität); BGHSt 41, 206 –Holzschutzmittel (zur Kausalität der Verwendung von chemischen Substanzen für Gesundheitsschäden); BGHSt 49, 1– Ausgang (zur Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe)
Kapitel 5:Objektive Zurechnung
I.Grundlagen
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Prüfungsschema
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a) Handlung (z. B. Messerstich)
b) Erfolg (z. B. Tod eines Menschen)
c) Kausalität
d) Objektive Zurechnung
2. Subjektiver Tatbestand
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
Bei Erfolgsdelikten (und nur bei diesen!) ist nach der Kausalität stets noch die objektive Zurechnungals weiteres ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu prüfen. Hier geht es um die Frage, ob ein strafrechtlicher Erfolg (z. B. der Tod eines Menschen), der von einem Täter kausal verursacht wurde, diesem auch tatsächlich als „sein Werk“ normativ zuzurechnen ist. Eine solche Zurechnung kann in bestimmten Fällen ausscheiden, in denen der Täter letztlich für den Erfolg nicht verantwortlich ist, weil dieser Erfolg z. B. als „Werk des Zufalls“, als „Werk eines Dritten“ oder als „Werk des Tatopfers selbst“ anzusehen ist. Die Rechtsfigur der objektiven Zurechnung ist erforderlich, weil die Kausalität im Strafrecht sehr weitgehend sein kann und daher einer Einschränkung bedarf. 58
Bsp.:Anton und Berta zeugen eines Nachts gemeinsam den Fritz. Dieser tötet 20 Jahre später im Streit seinen Widersacher Bruno mit einem Messer. – Die Zeugung von Fritz ist für Brunos Tötung kausal, denn hätten Anton und Berta den Fritz nicht in dieser Nacht gezeugt, hätte dieser den Bruno nicht an diesem Abend mit diesem Messer erstochen. Dennoch ist Brunos Tod allein ein „Werk des Fritz“. Der Tod kann Anton und Berta strafrechtlich nicht zugerechnet werden.
155Während man früher in diesen Fällen den objektiven Tatbestand als erfüllt ansah und erst im Rahmen des subjektiven Tatbestandes den Vorsatz verneinte, wird heute bereits die Erfüllung des objektiven Tatbestands abgelehnt. Denn es ist jedenfalls theoretisch denkbar, dass ein Täter vorsätzlich einen Erfolg herbeiführen möchte, der aber letztlich nicht als „sein Werk“ anzusehen ist. Die Rechtsprechung dagegen hat die Lehre der objektiven Zurechnung noch nie ausdrücklich anerkannt und löst die hier problematischen Fälle meist noch immer auf subjektiver Ebene (Entfallen des Vorsatzes bei wesentlicher Abweichung des vorgestellten vom tatsächlich eingetretenen Kausalverlauf).
Bsp.:Anton will seine Ehefrau Berta loswerden, traut sich jedoch nicht, diese eigenhändig umzubringen. Daher überredet er sie, allein in den Wald zu gehen, um Pilze zu sammeln, in der Hoffnung, sie werde dort von einem Blitz erschlagen, was tatsächlich geschieht. – Auch hier war Antons Aufforderung, Berta solle in den Wald gehen, kausal für deren Tod. Auch hatte er hierdurch ihren Tod herbeigesehnt. Bertas Tod war aber letztlich kein „Werk Antons“, sondern ein „Werk des Zufalls“.
II.Inhalt der Lehre von der objektiven Zurechnung
156Während die Kausalität auf der Grundlage der conditio-sine-qua-non-Formel eine rein tatsächliche („naturwissenschaftliche“) Betrachtung verlangt, erfordert die objektive Zurechnung eine rechtliche (= normative) Bewertungdes Sachverhalts. Es muss also unter normativen Gesichtspunkten geprüft werden, ob die Rechtsordnung einen bestimmten Erfolg als „Werk des Täters“ ansieht und ihm damit strafrechtlich zurechnet oder nicht. Dabei sind ausschließlich objektive Maßstäbe anzulegen.
Definition
Objektiv zurechenbarist ein tatbestandlicher Erfolg dem Täter dann, wenn das für den Erfolg ursächliche Verhalten ein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen hat, welches sich im Erfolg in seiner konkreten Gestalt auch in tatbestandstypischer Weise realisiert hat. 59
157In der Praxis haben sich nun einige Fallgruppenentwickelt, in denen die objektive Zurechnung ausscheidet bzw. (in juristischen Klausuren) zumindest diskutiert werden sollte. Dabei können auf der Grundlage der angegebenen Definition diejenigen Fälle, in denen bereits das rechtlich missbilligte Risiko ausscheidet (vgl. den ersten Teil der genannten Definition), von denen unterschieden werden, bei denen zwar ein solches Risiko geschaffen wurde, sich dieses aber nicht im konkret eingetretenen Erfolg realisierte (vgl. den zweiten Teil der genannten Definition). Die objektive Zurechnung kann dabei sowohl beim Vorsatzdelikt als auch beim Fahrlässigkeitsdelikt problematisch werden.
Hinweis
In einer Klausur muss die objektive Zurechnung nur dann erörtert werden, wenn Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Fallgruppe bestehen. Wenn dem nicht so ist, genügt (wiederum: nur bei Erfolgsdelikten!) der schlichte Hinweis: „Der Tod war dem Täter auch objektiv zurechenbar“.
III.Fallgruppen, in denen kein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen wird
1.Erlaubtes Risiko
158Objektiv nicht zurechenbar sind Verhaltensweisen, die sich noch im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos bzw. des von der Gesellschaft tolerierten Risikos halten und daher als sozialadäquat anzusehen sind. Sie werden von der Gesellschaft meist deswegen akzeptiert, weil mit der Risikoschaffung regelmäßig ein besonderer gesellschaftlicher Nutzen verbunden wird.
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