III.Formen der Kausalität
145Kausalzusammenhänge sind oft vielschichtig, weswegen man – auf der Grundlage der Bedingungstheorie – beim Zusammentreffen mehrerer Faktoren verschiedene Konstellationen unterscheiden kann.
1.Alternative Kausalität („Mehrfachkausalität“, „Doppelkausalität“)
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Definition
Unter alternativer Kausalitätversteht man das zeitliche Zusammenfallen von mehreren unabhängig voneinander gesetzten Bedingungen, wobei jede für sich allein zur Erfolgsherbeiführung ausgereicht hätte.
Bsp.:Sowohl Anton als auch Bruno wollen Kunigunde vergiften. Auf einer Party schütten beide unabhängig voneinander eine tödliche Dosis Gift in Kunigundes Sektglas. Diese trinkt und stirbt. – Hätte jede Dosis Gift an sich ausgereicht, um Kunigunde zu töten, kann jede Dosis für sich genommen hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.
Nach der conditio-sine-qua-non-Formelmüsste eine Kausalität in diesen Fällen ausscheiden. Dies kann aber im Ergebnis nicht richtig sein. Daher wird nach h. M. in den Fällen der alternativen Kausalität die conditio-sine-qua-non-Formel wie folgt modifiziert:
Modifizierte Formel:Von mehreren Bedingungen, die zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele, ist jede dieser Bedingungen für den Erfolg ursächlich.
147
Definition
Unter einer kumulativen Kausalitätversteht man das zeitliche Zusammenfallen mehrerer unabhängig voneinander gesetzter Bedingungen, die nur zusammen, nicht aber jede für sich allein den tatbestandlichen Erfolg herbeiführen.
Bsp.:Im eben genannten Giftfall schütten sowohl Anton als auch Bruno der Kunigunde unabhängig voneinander jeweils 20 mg Gift ins Sektglas, wobei beide davon ausgehen, dass ihre Dosis für eine Tötung ausreicht. Tödlich wirken aber erst 30 mg. Kunigunde stirbt. – Hier ist die Feststellung der Kausalität auf der Grundlage der conditio-sine-qua-non-Formel unproblematisch. Denkt man die Handlung auch nur eines der Beteiligten hinweg, würde der Erfolg (= Tod) entfallen. Fraglich ist hier jedoch die objektive Zurechnung des Erfolges (dazu sogleich).
148Eine Sonderform der kumulativen Kausalität findet man im Rahmen der Unterlassungsdelikte, wenn zwei Personen unabhängig voneinander einen tatbestandlichen Erfolg, zu dessen Abwendung sie in rechtlich gleicher Weise verpflichtet sind, nicht abwenden. Auch hier ist eine Kausalität unproblematisch, sofern ein Tätigwerden eines Handlungsverpflichteten ausgereicht hätte.
Bsp.:Die vierjährige Nichtschwimmerin Anna ist im Freibad ins Schwimmerbecken gesprungen. Sowohl ihr Vater als auch der Bademeister unternehmen nichts, woraufhin Anna ertrinkt. – Da es hier ausreichend ist, entweder die Rettungshandlung des Vaters oder die des Bademeisters hinzuzudenken, sind beide für das Ertrinken des Kindes verantwortlich (und im Ergebnis wegen einer Tötung durch Unterlassen strafbar, §§ 212, 13 StGB).
3.Hypothetische Kausalität
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Definition
Unter einer hypothetischen Kausalitätversteht man eine Situation, in der eine Bedingung zwar zum Erfolg führt, eine andere Bedingung aber wenig später mit Sicherheit zum gleichen Erfolg geführt hätte.
Auch hier liegt eine Kausalität des Ausgangsverhaltens für den konkret eingetretenen Erfolg vor. Hypothetische Kausalverläufe (sog. „Reserveursachen“) dürfen also nicht hinzugedacht werden. Denn der Erfolg in seiner konkreten Gestalt wäre gerade nicht in der vorliegenden Weise, sondern eben anders eingetreten.
Bsp.:Anton will gerade das Flugzeug besteigen, um zu seiner Geliebten nach Brüssel zu fliegen, als er von seiner eifersüchtigen Ehefrau Berta erschossen wird. Das Flugzeug, das Anton benutzen wollte, explodiert wenige Minuten nach dem Start, kein Passagier überlebt. – Bertas Verhalten war für Antons Tod in seiner konkreten Gestalt kausal. Sie ist wegen Totschlags, § 212 StGB, zu bestrafen. Dass Anton ansonsten wenige Minuten später bei dem Flugzeugunglück ohnehin ums Leben gekommen wäre, ist unbeachtlich, da Reserveursachen bei der Feststellung der Kausalität nicht zu berücksichtigen sind. Entscheidend ist allein, ob der konkrete Erfolg in dieser Weise, unter diesen Umständen und auch im selben Augenblick eingetreten wäre, was im vorliegenden Fall zu verneinen ist.
4.Abgebrochene Kausalität (überholende Kausalität)
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Definition
Unter einer abgebrochenenbzw. überholenden Kausalitätversteht man eine Situation, in der eine bereits gesetzte Bedingung zwar zum Erfolg geführt hätte, vor dem Erfolgseintritt jedoch eine andere Bedingung den Erfolg herbeiführt.
In diesen Fällen entfällt die Kausalität der Ersthandlung, da sie sich nicht im konkreten Erfolg niedergeschlagen hat.
Bsp.:Wieder schütten Anton und Bruno der Kunigunde auf einer Party jeweils eine tödliche Dosis Gift in den Sekt. Diese trinkt das Glas in einem Zug aus. Bevor allerdings das Gift zu wirken beginnt, wird Kunigunde von Ludwig mit einem Gewehr erschossen. – Hier war nur die Handlung Ludwigs kausal für den konkret eingetretenen Erfolg (= Tod durch Erschießen). Die Giftbeibringung stellt nur einen (strafbaren) Versuch dar, der sich im eingetretenen Erfolg nicht realisierte. Im Hinblick auf die Kausalität von Ludwigs Verhalten kann der Umstand, dass Kunigunde später ohnehin an dem Gift gestorben wäre, wiederum nicht berücksichtigt werden (= hypothetische Kausalität).
151Problematisch ist allerdings die Situation, in der zwar eine andere Bedingung hinzutritt, die ursprünglich gesetzte Bedingung aber bis zum Erfolg noch fortwirkt (sog. „mehrstufige Kausalität“). Hier ist die Kausalität zu bejahen.
Bsp.:Anton gibt seiner Ehefrau Berta Gift. Diese liegt im Sterben und wälzt sich röchelnd am Boden. Es ist abzusehen, dass sie nicht mehr gerettet werden kann. Ihr Sohn Sebastian kommt hinzu, erfasst die Sachlage und erschießt Berta aus Mitleid, um sie von ihren Qualen zu erlösen. – Hier war nicht nur die Handlung Sebastians, sondern auch die Handlung Antons kausal für Bertas Tod. Denn die zweite Handlung knüpfte an die erste an, wurde also durch sie verursacht. Denkt man sich die Giftbeibringung weg, entfiele auch der Erfolg, denn dann hätte Sebastian keinen Grund gehabt, Berta zu töten.
5.Kausalität bei Gremienentscheidungen
152Besonders problematisch ist die Beurteilung der Kausalität dann, wenn ein Gremium mehrheitlich entscheidet und man sich die Stimmabgabe des Einzelnen hinweg denken kann, ohne dass der Erfolg entfiele.
Bsp.:Fritz ist Mitglied des fünfköpfigen Vorstands einer GmbH. Diese vertreibt ein gesundheitsschädliches Holzschutzmittel. Nachdem dieser Umstand bekannt geworden ist, beschließt der Vorstand mit 4:1 Stimmen, den Vertrieb trotzdem aufrecht zu erhalten. Auch Fritz hatte dafür gestimmt. Mehrere Kunden sterben. Fritz beruft sich später darauf, dass der Vertrieb auch bei einem Abstimmungsergebnis von 3:2 fortgesetzt worden wäre, seine „Ja“-Stimme also für den Weitervertrieb und die dadurch verursachten Tötungen nicht kausal gewesen sei.
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