III. Schuld
Wie bereits mehrfach erwähnt, wird heutzutage kaum mehr bestritten, dass sich die tatbestandliche Verwirklichung eines Delikts nicht im Vorliegen des objektiven Tatbestandes erschöpft. Ein Verhalten stellt sich (zumindest beim vorsätzlich begangenen Delikt) nur dann als tatbestandliches Unrecht dar, wenn auch die subjektivenVoraussetzungen gegeben sind. Der „subjektive Tatbestand“ist somit ein eigenständiger Prüfungspunkt im Rahmen der Prüfung des vorsätzlichen Begehungsdelikts.
Klausurtipp
In der Klausur muss daher unter der Überschrift „subjektiver Tatbestand“ bei jedem Delikt festgestellt werden, dass der Täter hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale auch vorsätzlich gehandelt hat. Selbst wenn dies im Einzelfall unproblematisch ist, darf auf diesen Prüfungspunkt nicht verzichtet werden (allerdings reicht es in den meisten Fällen aus, das vorsätzliche Verhalten kurz festzustellen, z. B. „Anton hat hinsichtlich des tödlichen Erfolges auch vorsätzlich gehandelt“. Auf weitergehende Ausführungen kann in diesem Fall verzichtet werden).
170In der Prüfung des subjektiven Tatbestandessind im Wesentlichen zwei unterschiedliche Prüfungspunkte zu beachten: Erstens muss festgestellt werden, dass der Täter vorsätzlich im Hinblick auf jedes einzelne (geschriebene oder ungeschriebene) objektive Tatbestandsmerkmal gehandelt hat. Dies ergibt sich aus § 15 StGB, der – sofern nicht ausdrücklich fahrlässiges Handeln unter Strafe gestellt ist – das Erfordernis eines Vorsatzes für sämtliche Delikte normiert und „vor die Klammer zieht“. Das Erfordernis des Vorsatzes ist daher über § 15 StGB in jedes (Vorsatz)Delikt mit hineinzulesen und somit auch als geschriebenes (subjektives) Tatbestandsmerkmal zu betrachten. Zweitens können manche Tatbestände darüber hinaus noch besondere subjektive Merkmale erfordern, die dann aber im jeweiligen Tatbestand ausdrücklich normiert sein müssen. Diese bestehen in der Regel aus einer besonderen Absicht (Bsp.: die Zueignungsabsicht beim Diebstahl, § 242 StGB), aus einem speziellen Wissen (Bsp.: das Handeln „wider besseres Wissen“ bei der Verleumdung, § 187 StGB) oder sonstigen Motiven des Täters (Bsp.: die Habgier beim Mord, § 211 StGB).
II.Vorsatz und Fahrlässigkeit
171 Vorsatzund Fahrlässigkeitschließen sich notwendigerweise aus. Man kann also bzgl. derselben Tat (d. h.: durch dieselbe Handlung) im Hinblick auf denselben Tatbestand und in Bezug auf dasselbe Objekt bzw. Tatopfer nicht gleichzeitig vorsätzlichund fahrlässighandeln. Möglich ist es jedoch, dass ein Täter im Rahmen einer Tat zugleich einen Tatbestand vorsätzlich, einen anderen jedoch fahrlässig erfüllt.
Bsp.:Anton schlägt Bruno eine Bierflasche über den Kopf. Dabei will er ihn auf jeden Fall erheblich verletzen. Daran, dass Bruno an dem Schlag auch sterben könnte, hat Anton nicht gedacht. Es wäre ihm aber auch gleichgültig. Bruno stirbt. – Anton hat hier entweder eine vorsätzliche oder eine fahrlässige Tötung begangen. Ist man der Ansicht, dass die Gleichgültigkeit hinsichtlich des tödlichen Erfolges bereits ein (bedingt) vorsätzliches Verhalten darstellt, dann liegt ein Vorsatzdelikt vor. Eine Fahrlässigkeitsbestrafung kann dann nicht erfolgen. Hier muss man sich in einer Klausur also stets entscheiden. Nimmt man lediglich eine fahrlässige Tötung an, kann man daneben aber problemlos auch eine vorsätzliche Sachbeschädigung an der Bierflasche, § 303 StGB, annehmen, wenn Anton fest damit rechnete, dass diese bei dem Schlag zerbricht.
172Möglich ist es zudem, dass ein Täter im Rahmen einer Tat denselben Tatbestand hinsichtlich einer Person vorsätzlich, hinsichtlich einer anderen Person jedoch fahrlässig erfüllt.
Bsp.:Anton legt in Brunos Garten eine Tretmine aus, um damit den alleinstehenden Bruno zu töten. Dies geschieht auch, wobei durch die Explosion auch Berta, die Arm in Arm mit Bruno den Garten betrat, getötet wird. Damit hatte Anton nicht gerechnet. – Während hinsichtlich Bruno eine vorsätzliche Tötung, § 212 StGB (bzw. ein vorsätzlicher Mord, § 211 StGB) vorliegt, kommt im Hinblick auf Berta lediglich eine Strafbarkeit wegen einer fahrlässigen Tötung, § 222 StGB, in Frage.
III.Der Begriff des Vorsatzes
1.Vorsatz als Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung
173Das Strafgesetzbuch definiert an keiner Stelle, was genau unter dem Begriff des Vorsatzes zu verstehen ist. Es ist jedoch weitgehend anerkannt, dass sich der Vorsatz aus zwei Elementen zusammensetzt, die kumulativ vorliegen müssen.
Definition
Vorsatzist Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung.
174Abzugrenzen ist der Vorsatzvon der Fahrlässigkeit. Relevant wird dies insbesondere für diejenigen Fälle, in denen der Täter jedenfalls entfernt mit der Möglichkeit des Erfolgseintritts rechnet, er diesen Erfolg aber nicht zwingend herbeiführen will (Bsp.: um sich abzureagieren, zertrümmert Anton eine Bierflasche auf dem Kopf seines Nebenbuhlers). In diesem Bereich haben sich die Rechtsfiguren des „bedingten Vorsatzes“ und der „bewussten Fahrlässigkeit“ entwickelt, zwischen denen sauber abzugrenzen ist. Denn der „bedingte Vorsatz“ führt zu einer Bestrafung wegen des Vorsatzdeliktes (Bsp.: Totschlag, § 212 StGB), die „bewusste Fahrlässigkeit“ hingegen zu einer Bestrafung lediglich aus dem Fahrlässigkeitsdelikt (Bsp.: fahrlässige Tötung, § 222 StGB). In diesem Bereich hat sich inzwischen eine nahezu unüberschaubare Vielzahl verschiedener Abgrenzungstheorien entwickelt, 65die den Studierenden, jedenfalls in den Anfangssemestern, aber nicht alle bekannt sein müssen. Da sie jedoch für das Verständnis des Vorsatzes als „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“ eine Rolle spielen können, soll im Folgenden ein kurzer Überblick gegeben werden:
175Dass für den Vorsatz sowohl ein Wissens- als auch ein Wollenselement erforderlich ist, verlangen lediglich die sog. Willenstheorien. Nach der insbesondere von der Rechtsprechung vertretenen „Billigungstheorie“ 66, der sich die überwiegenden Stimmen in der Literatur angeschlossen haben 67, handelt vorsätzlich, wer den Erfolgseintritt jedenfalls für möglich hält (kognitives oder Wissenselement) und dabei den Erfolg billigend in Kauf nimmt (voluntatives oder Willenselement). Die Gleichgültigkeitstheorie erweitert das voluntative Element der billigenden Inkaufnahme noch auf diejenigen Fälle, in denen dem Täter der Erfolg gleichgültig ist. 68Eine weitere Spielart stellt die „Ernstnahmetheorie“ dar, die aber im Wesentlichen zu denselben Ergebnissen gelangt: Um vorsätzlich zu handeln, muss der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts kennen, diese ernst nehmen und sich mit ihr abfinden. 69Diese Theorien gewährleisten eine sinnvolle Abgrenzung des bedingten Vorsatzes und der bewussten Fahrlässigkeit. Bei beiden Formen muss der Täter nämlich jedenfalls mit der Möglichkeit des Erfolgseintritts rechnen. Während er beim bedingten Vorsatz den Erfolg jedoch billigt oder jedenfalls gleichgültig hinnimmt, muss er bei der bewussten Fahrlässigkeit ernsthaft auf das Ausbleiben des Erfolges vertrauen.
176Dagegen verlangen die Wissenstheorienlediglich ein Wissenselement und wollen auf das Willenselement verzichten. Vorsätzlich handelt hiernach bereits derjenige, der den Erfolgseintritt für möglich hält und trotzdem handelt (Möglichkeitstheorie 70). Da danach der Bereich vorsätzlichen Verhaltens sehr weit ausgedehnt wird, verlangen wiederum andere, dass der Täter den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges nicht nur für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich hält (Wahrscheinlichkeitstheorie 71). Problematisch ist an diesen Ansichten, dass hier eine Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit, bei der ein Täter ebenfalls mit der Möglichkeit eines Erfolgseintritts rechnet, diesen Erfolg aber eigentlich nicht herbeiführen will, kaum mehr möglich ist.
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