177Schließlich existiert noch eine größere Zahl sog. Risikotheorien:Vorsätzlich handelt hiernach, wer nach seiner eigenen Einschätzung bewusst ein unerlaubtes bzw. von der Rechtsordnung nicht toleriertes Risiko der Tatbestandsverwirklichung in Gang setzt (subjektive Variante 72) bzw. eine (objektiv) ernstzunehmende, nicht nur unerlaubte, sondern auch unabgeschirmte Gefahr als solche erkannt hat und dennoch handelt (objektive Variante 73).
178Folgt man der herrschenden Billigungstheorie, ist somit festzustellen, ob der Täter Kenntnis hinsichtlich aller objektiven Tatumstände hatte (= Wissen) und zudem die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes auch wollte. Dabei ist es entscheidend, dass sich das Wissen und Wollen nicht abstrakt auf die Tat als solche beziehen muss, sondern vielmehr im Hinblick auf jedes einzelne Tatbestandsmerkmal (= auf jeden Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört) zu prüfen ist. Das Gesetz umschreibt dies in § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB wie folgt:
Gesetzestext
Wer bei der Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich.
179Dabei wird sich aus dem Wissen regelmäßig auch das Wollen ergeben. Wer weiß, dass eine Handlung ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal erfüllt, der wird dies, wenn er die Handlung dennoch vornimmt, üblicherweise auch wollen. Denn würde der Täter die Erfüllung des jeweiligen Tatbestandsmerkmals nicht wollen, dann könnte er die entsprechende Handlung auch schlicht unterlassen. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen dies nicht eindeutig ist und der Täter zwar um die Gefährlichkeit seines Verhaltens weiß, aber auf einen „guten Ausgang“ vertraut.
Bsp. (für den Bereich des Unterlassens):Anton fährt mit seinem Auto den Fahrradfahrer Bruno an, der verletzt auf der Straße liegen bleibt. Anton rechnet zwar mit der Möglichkeit, dass Bruno schwer verletzt ist und Hilfe braucht, er fährt jedoch weiter in der Hoffnung „es würde schon nicht so schlimm sein“. – Hier war dem Anton die Gefährlichkeit seines Handelns im Hinblick auf Brunos möglichen Tod durchaus bewusst. Dennoch wollte er dessen Tod nicht. Wissen und Wollen können also auseinanderfallen.
Bsp. (für den Bereich des aktiven Tuns):Fabrikant Fritz stellt Holzschutzmittel her und vertreibt diese. Dabei unterlässt er es aus Kostengründen, die erforderlichen Kontrollen hinsichtlich der Gesundheitsschädlichkeit seiner Produkte durchzuführen. Er vertraut jedoch darauf, dass „schon alles in Ordnung“ gehen und nichts passieren würde. Einige Verbraucher erleiden dennoch gesundheitliche Schäden. – Auch hier wusste Fritz um die Gefährlichkeit des (unkontrollierten) Vertriebs. Er rechnete auch mit möglichen Schäden, „wollte“ diese aber an sich nicht und vertraute pflichtwidrig auf einen glimpflichen Ausgang.
2.Das Wissenselement (der kognitive Bereich)
180Das Wissenselement ist bei der Prüfung des Vorsatzes logisch vorrangig. Nur das, was man weiß, kann man auch wollen. Dabei sind mehrere Abstufungen – vom sicheren Wissen bis zum bloßen „Für-Möglich-Halten“ – denkbar.
Hinweis
In der juristischen Praxis müssen – insbesondere wenn der Angeklagte schweigt – oft umfassende Ermittlungen angestellt werden, was der Täter im Einzelnen wusste und was er wollte. In Klausuren wird dies im Rahmen eines feststehenden Sachverhaltes meist ausdrücklich klargestellt („Anton kannte die Gefährlichkeit seines Verhaltens“) oder es muss aus den mitgeteilten Indizien unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung auf ein Wissen und Wollen geschlossen werden.
Bsp.:Für einen Tötungsvorsatz käme die Formulierung „Anton sticht Bruno ein Messer in Tötungsabsicht in den Bauch“ in Frage, während für ein unvorsätzliches Verhalten die Formulierung „Anton stößt, ohne es zu wollen, eine Kerze um, die das Haus in Brand setzt“ sprechen würde. Schwieriger wäre schon die Formulierung: „Anton steht an einem einsamen Bergsee und stößt Bruno, von dem er weiß, dass er Nichtschwimmer ist, ins tiefe Wasser“. Eine lebensnahe Auslegung ergibt hier, dass derjenige, der einen Nichtschwimmer in einen einsamen Bergsee stößt, sich später nicht damit herausreden kann, er hätte nicht gewusst, dass dieses Verhalten lebensgefährliche Folgen haben kann. Aus der hohen Gefährlichkeit kann dann auch auf das Wollen, hier in Form der billigenden Inkaufnahme des Erfolges geschlossen werden, sofern im Sachverhalt nicht weiter ausgeführt wird, warum Anton auf einen glücklichen Ausgang vertrauen konnte.
181Im Hinblick auf den Wissensbereichist dabei lediglich erforderlich, dass der Täter die tatsächlichen Umständekannte (vgl. auch § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB). Er muss also nicht zugleich wissen, dass er auch ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal erfüllt. Eine rechtlich zutreffende Subsumtion ist daher nicht notwendig.
Bsp.:Anton tötet mittels einer Steinschleuder die Hühner seines Nachbarn. – Hier hat Anton die tatsächlichen Umstände (Tötung der Hühner) vollständig erfasst. Nicht erforderlich ist, dass er auch weiß, dass die Tötung von Hühnern rechtlich eine Sachbeschädigung, § 303 StGB, darstellt. Geht er davon aus, dass Tiere keine Sachen sein können, liegt ein den Vorsatz nicht berührender unbeachtlicher Subsumtionsirrtum vor.
3.Das Wollenselement (der voluntative Bereich)
182In einem zweiten Schritt ist anschließend festzustellen, ob und inwieweit der Täter die als sicher, möglich oder wahrscheinlich erkannte Tatbestandsverwirklichung auch wollte, eventuell sogar gerade beabsichtigte oder zumindest billigend in Kauf nahm. Auch hier sind also verschiedene Abstufungen möglich. Es wurde bereits festgestellt, dass aus dem Vorliegen des Wissenselements zumeist auch auf das Wollen zu schließen ist, dass dies aber nicht immer zwingend der Fall sein muss. Insbesondere ist der Wollensbereich dann gesondert zu untersuchen, wenn lediglich eine gewisse Möglichkeit der Tatbestandserfüllung, also ein gewisser Grad der Gefährdung gegeben ist.
Bsp.:Anton hat erfahren, dass er mit dem AIDS-Virus (HIV) infiziert ist. Er wird von seinem Arzt über die möglichen Folgen umfassend aufgeklärt. Dennoch übt er auch weiterhin mit mehreren Personen ungeschützten Geschlechtsverkehr aus, ohne diesen etwas von seiner Infizierung zu erzählen. Eine der betroffenen Personen infiziert sich und stirbt an AIDS. Anton meint, er sei davon ausgegangen, es würde „schon nichts passieren“. – Hier wusste Anton von der Gefährlichkeit seines Verhaltens, vertraute aber darauf, es würde schon gut gehen. Er „wollte“ den tödlichen Erfolg also nicht. Ob er nun ernsthaft auf einen guten Ausgang vertrauen durfte, was nicht der Fall wäre, wenn sich der tödliche Ausgang gleichsam „aufdrängen“ musste, ist eine Frage der Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit im Einzelfall.
Klausurtipp
Bei der hier erforderlichen Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit wird es in einer Klausur selten ein „richtig“ oder „falsch“ geben. Die Lösung muss lediglich „vertretbar“ sein, was erfordert, dass sich die Studierenden argumentativ mit dem konkreten Sachverhalt auseinandersetzen. Was spricht im Einzelnen für, was gegen die eine oder andere Lösung? Am Schluss muss dann aber ein eindeutiges Ergebnis formuliert werden.
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